Dr. Richard Andree - Die Flutsagen

1891

 

Vorderasien

Der chaldäische Sintflutbericht ist, soweit wir bis jetzt wissen, der älteste. Er ist nicht, wie man ursprünglich annahm, ein Nachhall oder eine Abschrift des Hebräischen, sondern das Original desselben. Diese babylonische Tradition war früher nur in der Form bekannt, in welcher sie Alexander Polyhistor aus dem Berossos (Zeit Alexanders des Großen) mitgeteilt hatte. Sie lautet bei ihm folgendermaßen:

Dem vorsintflutlichen Könige Xisuthros offenbart Kronos, daß am 15. des Monats Däsios die Menschen durch eine große Wasserflut umkommen sollten und befiehlt ihm, die vorhandenen Schriften in Sippara zu vergraben, ein Schiff zu bauen, mit seinen Verwandten und Freunden hineinzugehen, Speisen und Getränke mitzunehmen, auch Vögel und vierfüßige Tiere darin aufzunehmen. Xisuthros baut das Schiff 15 Pfeilschüsse (= Stadien) lang und zwei Pfeilschüsse breit und geht mit Frau, Kindern und Freunden hinein. Die Flut kommt, nimmt aber bald wieder ab. Xisuthros entläßt einige kundschaftende Vögel, die aber, weil sie nichts zu fressen und keinen Ruheplatz finden, zurückkehren. Nach einigen Tagen sendet er abermals Vögel aus, die auch zurückkommen, aber Schlamm zwischen den Füßen haben. Als er sie zum drittenmal aussendet, kehren sie nicht mehr zurück. Nun öffnet Xisuthros das Dach des Schiffes und sieht, daß letzteres auf einem Berge feststeht; er steigt mit seiner Frau, einer Tochter und dem Steuermann des Schiffes aus, betet, baut einen Altar und bringt den Göttern Opfer dar, darauf verschwindet er mitsamt den übrigen Ausgestiegenen. Die im Schiffe Zurückgebliebenen steigen später aus, finden ihn nirgends, hören ihn aber vom Himmel her rufen: Sie sollten die Götter ehren; er und die mit ihm Ausgestiegenen seien um ihrer Frömmigkeit willen in die Wohnung der Götter aufgenommen worden; jene sollten wieder nach Babylon gehen, die in Sippara verborgenen Schriften ausgraben und den Menschen übergeben; das Land, wo sie sich befänden, sei Armenien. Nun bringen auch sie den Göttern Opfer dar, ziehen nach Babylon, holen die Schriften aus Sippara, bauen Städte und Tempel und errichten Babylon wieder. Von dem Schiffe aber sieht man noch jetzt (zur Zeit des Berossos) auf dem Gebirge der Kordyäer in Armenien Reste und das von dem Schiffe abgekratzte Erdpech dient als Heilmittel *).

Hat man nun früher angenommen, daß dieser mit dem biblischen auffallend übereinstimmende Sintflutbericht aus der Genesis entlehnt sei, so wissen wir jetzt mit Bestimmtheit, daß dieses nicht der Fall, sondern daß er einer älteren Originalquelle entstammt, die ihrerseits wieder der biblischen Erzählung als Urquelle diente. Der 1872 von dem Assyriologen G. Smith entdeckte chaldäische Sintflutbericht stellt dieses fest und auch die Annahme, daß die biblische Sintfluterzählung allein einen moralischen Hintergrund habe, die Bestrafung des sündhaften Menschengeschlechtes durch Gott wird damit hinfällig.

Die von George Smith aufgefundenen Keilschrifttafeln stammen zwar erst aus dem siebenten Jahrhundert vor Chr., ihr Text jedoch ist zweifellos viel älter und rührt aus einer spätestens 2000 vor Chr. abgefaßten Urkunde her **).

Mehrere babylonische Litteraturerzeugnisse haben die Beschreibung der Sintflut zum Gegenstande, zwei davon sind ineinander verwoben von dem Verfasser eines großen Epos in zwölf Büchern, das die Abenteuer eines Sonnenheros, oder Gisdubar oder Isdubar - genau ist der Name noch nicht gelesen - schildert. Isdubar ist identisch mit dem Nimrod der Bibel, der über Babel, Erech, Akkad und Kalneh herrschte und Ninive gründete. Sein Ahn ist Schamaschnapitschtim mit dem Beinamen Adrahasis oder Hasisadra, der berosseische Xisuthros. Dieses Nationalepos, dessen elftes Buch der chaldäische Sintflutbericht bildet, ist auf astronomisch-allegorischer Grundlage angelegt, indem jedes Buch einem Zeichen des Tierkreises, das elfte jenem des Wassermannes entspricht. Der elfte Monat heißt im Sumero-Akkadischen der „Regenfluchmonat“. Sisuthros erzählt die Geschichte der Flut dem Gisdubar, als dieser, um von einer Krankheit zu genesen, zu ihm an das Gestade des Totenflusses an der Euphratmündung gekommen ist und, fern von der Welt, mit ihm sich bespricht. In Haupts Übersetzung lautet sie unter einigen Weglassungen folgendermaßen:

Du kennst die Stadt Surippak, welche am Euphrat liegt. Diese Stadt war schon alt, als die Götter darin zur Anrichtung einer Sintflut ihr Herz antrieb; die großen Götter insgesamt, ihr Vater Amu, ihr Berater, der streitbare Bel, ihr Thronträger Adar, ihr Führer Ennuzi. Der Herr der unerforschlichen Weisheit, der Gott Ea, war aber mit ihnen und verkündete mir ihren Beschluß. Mann von Surippak, sprach er, verlasse dein Haus und baue ein Schiff; sie wollen vertilgen den Samen des Lebens; darum erhalte du am Leben und bringe hierauf Samen des Lebens von jeglicher Art auf das Schiff, das du erbauten sollst. X (undeutliche Zahl) Ellen sei seine Länge und Y (undeutliche Zahl) sei seine Breite und Höhe, überdache es mit einem Verdecke. Schließe nicht eher die Thür des Schiffes hinter dir, als bis ich dich benachrichtigen werde. Dann steige ein und bringe in das Schiff dein Korn, dein Hab und Gut, deine Familie, deine Knechte und Mägde und deine nächsten Freunde. Das Vieh des Feldes, das Wild des Feldes will ich selbst zu dir senden.

Da baute ich das Schiff und versah es mit Nahrungsmitteln. Ich teilte es in Abteilungen, ich sah nach den Fugen und füllte sie aus. Drei Saren (großes Hohlmaß) Erdpech goß ich über seine Außenseite, drei Saren Erdpech über seine Innenseite. Alles was ich besaß, brachte ich auf das Schiff, all mein Gold, mein Silber und Samen des Lebens jeglicher Art, all mein männliches und weibliches Gesinde, das Vieh des Feldes, das Wild des Feldes, meine nächsten Freunde. Als nun der Sonnengott die bestimmte Zeit brachte, sprach eine Stimme: „Am Abend werden die Himmel Verderben regnen, steig ein in das Schiff und schließe die Thür zu." Mit Bangen erwartete ich den Sonnenuntergang. Furcht hatte ich, doch stieg ich in das Schiff und schloß die Thür zu. Dem Buzurkurgal, dem Steuermann, übergab ich den gewaltigen Bau samt Ladung.

Da erhob sich dunkles Gewölk vom Grunde des Himmels, in dessen Mitte der Sturmgott seine Donner sprechen ließ. Die Wirbelwinde entfesselt der gewaltige Pestgott, der Gott Adar lässt die Kanäle überströmen, die Götter des großen unterirdischen Wassers bringen gewaltige Fluten herauf, die Erde lassen sie erzittern, des Sturmgotts Wogenschwall steigt bis zum Himmel, alles Licht ward verwandelt in Finsternis. Die Göttin Istar schreit wie eine Gebärende und ruft: „So ist denn alles in Schlamm verwandelt, wie ich es den Göttern prophezeit. Ich aber gebäre meine Menschen nicht dazu, daß sie wie Fischbrut das Meer erfüllen.“ Da weinten die Götter mit ihr über die Geister des großen unterirdischen Wassers.

Sechs Tage und sieben Nächte behielten Wind, Flut und Sturm die Oberhand. Am siebenten Tage aber legte sich die Sintflut, das Meer zog sich in sein Bett zurück und Sturm und Flut hörten auf.

Ich aber durchfuhr das Meer, laut klagend, daß die Stätten der Menschen in Schlamm verwandelt waren, wie Baumstämme trieben die Leichen umher. Eine Luke hatte ich geöffnet und als ich das Licht des Tages erblickte, da zuckte ich weinend zusammen. Über die Länder, jetzt ein furchtbares Meer, fuhr ich dahin, da tauchte Land zwölf Maß hoch auf. Nach dem Lande Nizir steuerte das Schiff. Der Berg des Landes Nizir hielt das Schiff fest. So wartete ich sechs Tage lang. Am siebenten ließ ich eine Taube fliegen, da kein Ruheplatz war, kehrte sie zurück. Darauf ließ ich eine Schwalbe fliegen, da kein Ruheplatz war, kehrte sie zurück. Da ließ ich einen Raben fliegen und als er die Abnahme des Wassers sah, kehrte er nicht wieder zurück. Da ließ ich alles heraus. Ein Opfer brachte ich dar und errichtete einen Altar auf dem Gipfel des Berges.

In dem chaldäischen Berichte erscheinen nun infolge des Opfers die Götter und geraten in Streit untereinander über die Sintflut und ihre Folge. Bel ist aufgebracht und will keine Seele entkommen lassen, er will auch die Geretteten vernichten; aber Ea beschwichtigt ihn und verlangt, daß keine Sintflut wieder stattfinde. Bel giebt sich zufrieden und erhebt den frommen und weisen Sisuthros unter die Götter.

 

*) Berossos war ein babylonischer Balpriester etwa 260 vor Chr. Die von ihn erhaltenen Bruchstücke, die uns erst aus zweiter Hand überliefert wurden, gab Richter heraus. Berosi Chaldaeorum fragmenta. Lips. 1825.

**) Vergl. George Smiths Chaldäische Genesis. Übersetzung von H. Delitzsch. Nebst Erläuterungen und fortgesetzte Forschungen von Friedrich Delitzsch. Leipzig 1876. Der keilinschriftliche Sintflutbericht. Eine Episode des babylonischen Nimrodepos von Dr. Haupt. Leipzig 1881. Alte Denkmäler im Lichte neuer Forschungen von A. H. Sayce. Deutsche Ausgabe. Leipzig s. a. 26 bis 36.

 

Eigene Anmerkung:

Mit dieser chaldäischen Quelle das Gilgamesch-Epos gemeint, zu dem es ohne Ende weiterführende und aktuellere Literatur gibt. Der verlinkte Wikipedia-Artikel ist dafür ein guter Ausgangspunkt.