... Eine Religion hingegen, für die Unzähligen bestimmt, welche, der Prüfung und des Denkens unfähig, die tiefsten und schwierigsten Wahrheiten sensu proprio nimmermehr fassen würden, hat auch nur die Verpflichtung, sensu allegorico wahr zu sein. Nackt kann die Wahrheit vor dem Volke nicht erscheinen.
Ein Symptom dieser allegorischen Natur der Religionen sind die vielleicht in jeder anzutreffenden Mysterien, nämlich gewisse Dogmen, die sich nicht ein Mal deutlich denken lassen, geschweige wörtlich wahr sein können. Ja, vielleicht ließe sich behaupten, dass einige völlige Widersinnigkeiten, einige wirkliche Absurditäten, ein wesentliches Ingredienz einer vollkommenen Religion seien: denn diese sind eben der Stempel ihrer allegorischen Natur und die allein passende Art, dem gemeinen Sinn und rohen Verstand fühlbar zu machen, was ihm unbegreiflich wäre, nämlich dass die Religion im Grunde von einer ganz andern, von einer Ordnung der Dinge an sich handelt, vor welcher die Gesetze dieser Erscheinungswelt, denen gemäß sie sprechen muss, verschwinden, und dass daher nicht bloß die widersinnigen Dogmen, sondern auch die begreiflichen, eigentlich nur Allegorien und Akkomodationen zur menschlichen Fassungskraft sind. In diesem Geiste scheint mir Augustinus und selbst Luther die Mysterien des Christentums festgehalten zu haben, im Gegensatz des Pelagianismus, der alles zur platten Verständlichkeit herabziehen möchte. Von diesem Gesichtspunkte aus wird auch begreiflich, wie Tertullian, ohne zu spotten, sagen konnte: Prorsus credibile est, quia ineptum est: - - certum est, quia impossibile ...
(Es ist völlig glaubwürdig, weil es absurd ist: - - es ist sicher, weil es unmöglich ist)
Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung Bd. 2, Kapitel 17, Über das metayphysische Bedürfnis des Menschen