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Ja, frühzeitig hat der Vater
Ihn geleitet zu dem Talmud,
Und da hat er ihm erschlossen
Die Halacha, diese große
Fechterschule, wo die besten
Dialektischen Athleten
Babylons und Pumpedithas
Ihre Kämpferspiele trieben.
Lernen konnte hier der Knabe
Alle Künste der Polemik;
Seine Meisterschaft bezeugte
Späterhin das Buch Cosari.
Doch der Himmel gießt herunter
Zwei verschiedne Sorten Lichtes:
Grelles Tageslicht der Sonne
Und das mildre Mondlicht – Also,
Also leuchtet auch der Talmud
Zwiefach, und man theilt ihn ein
In Halacha und Hagada.
Erstre nannt’ ich eine Fechtschul’ –
Letztre aber, die Hagada,
Will ich einen Garten nennen,
Einen Garten, hochphantastisch
Und vergleichbar jenem andern,
Welcher ebenfalls dem Boden
Babylons entsprossen weiland –
Garten der Semiramis,
Achtes Wunderwerk der Welt.
Königin Semiramis,
Die als Kind erzogen worden
Von den Vögeln, und gar manche
Vögelthümlichkeit bewahrte,
Wollte nicht auf platter Erde
Promeniren wie wir andern
Säugethiere, und sie pflanzte
Einen Garten in der Luft –
Hoch auf colossalen Säulen
Prangten Palmen und Cypressen,
Goldorangen, Blumenbeete,
Marmorbilder, auch Springbrunnen,
Alles klug und fest verbunden
Durch unzähl’ge Hänge-Brücken,
Die wie Schlingepflanzen aussahn
Und worauf sich Vögel wiegten –
Große, bunte, ernste Vögel,
Tiefe Denker, die nicht singen,
Während sie umflattert kleines
Zeisigvolk, das lustig trillert –
Alle athmen ein, beseligt,
Einen reinen Balsamduft,
Welcher unvermischt mit schnödem
Erdendunst und Mißgeruche.
Die Hagada ist ein Garten
Solcher Luftkindgrillen-Art,
Und der junge Talmudschüler,
Wenn sein Herze war bestäubet
Und betäubet vom Gezänke
Der Halacha, vom Dispute
Ueber das fatale Ei,
Das ein Huhn gelegt am Festtag,
Oder über eine Frage
Gleicher Importanz – der Knabe
Floh alsdann sich zu erfrischen
In die blühende Hagada,
Wo die schönen alten Sagen,
Engelmährchen und Legenden,
Stille Märtyrerhistorien,
Festgesänge, Weisheitsprüche,
Auch Hyperbeln, gar possirlich,
Alles aber glaubenskräftig,
Glaubensglühend – O, das glänzte,
Quoll und sproß so überschwenglich –
Und des Knaben edles Herze
Ward ergriffen von der wilden,
Abenteuerlichen Süße,
Von der wundersamen Schmerzlust
Und den fabelhaften Schauern
Jener seligen Geheimwelt,
Jener großen Offenbarung,
Die wir nennen Poesie.
Auch die Kunst der Poesie,
Heitres Wissen, holdes Können,
Welches wir die Dichtkunst heißen,
That sich auf dem Sinn des Knaben.
Und Jehuda ben Halevy
Ward nicht blos ein Schriftgelehrter,
Sondern auch der Dichtkunst Meister,
Sondern auch ein großer Dichter.
Ja, er ward ein großer Dichter,
Stern und Fackel seiner Zeit,
Seines Volkes Licht und Leuchte,
Eine wunderbare, große
Feuersäule des Gesanges,
Die der Schmerzenskarawane
Israels vorangezogen
In der Wüste des Exils.
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Den grau hinterlegten Teil dieses Textes haben wir den kybernetischen Gärten von Babylon als einleitendes Motto vorangestellt. Selbst der gesamte Beitrag stellt nur ein Auszug aus dem sehr langen Gedicht dar. Aber das lässt sich noch steigern: Heine nannte die gesamten vier Kapitel seines Jehuda ben Halevy, die man zum Beispiel hier nachlesen kann, ein "Fragment".