Diodor’s von Sicilien
Historische Bibliothek
übersetzt von Julius Friedrich Wurm (1828)
Buch II
21.
Nach ihrem Tode übernahm die Herrschaft Ninyas, der Sohn des Ninus und der Semiramis. Seine Regierung war friedlich; in kriegerischen und gefahrvollen Unternehmungen wollte er es seiner Mutter nicht im mindesten gleich thun. Seine ganze Lebenszeit brachte er im königlichen Pallaste zu, und war für Niemand sichtbar als für die Kebsweiber und für seine Verschnittenen. Blos um Vergnügen und trägen Genuß war es ihm zu thun, um Freiheit von jeder Beschwerde und jeder Sorge. Er sah Das als das höchste Glück für einen König an, allen Lüsten ungehindert sich überlassen zu können. Um sich aber die Herrschaft zu sichern und die Unterthanen in Furcht zu erhalten, bot er jährlich eine bestimmte Zahl von Soldaten mit einem Befehlshaber aus jedem Lande auf. Wenn sich nun das ganze Heer versammelt hatte, so ließ er es ausserhalb der Stadt sich lagern, und zu Anführern für die einzelnen Völker wählte er die ihm Ergebensten unter seinen Bekannten. Nach Verfluß eines Jahrs mußte jedes Volk wieder die gleiche Anzahl von Soldaten stellen, und die vorigen wurden in ihre Heimath entlassen. Diese Maßregel hatte die Wirkung, daß in allen dem König unterworfenen Ländern Schrecken sich verbreitete, weil man immer große Heere im Feldlager gerüstet und die Strafe für die Abtrünnigen und Ungehorsamen vor Augen sah. Das jährliche Wechseln mit den Truppen hatte den Zweck, jedes Heer sobald wieder nach Hause zu schicken, daß die Befehlshaber und die Soldaten Alle nicht näher mit einander bekannt werden könnten. Denn durch den längeren Aufenthalt im Lager werden die Anführer reicher an Kriegserfahrung und übermüthiger, und, was die Hauptsache ist, es gibt da Gelegenheit zu Unruhen und Verschwörungen gegen die Herrscher. Wenn sich Ninus vor Niemand ausser dem Hause sehen ließ, so wußte auch kein Mensch, was es denn für Vergnügungen waren, denen er sich hingab; man fürchtete ihn wie einen unsichtbaren Gott, und wagte es nicht, ihn auch nur mit einem Wort zu schmähen. Er ernannte für jedes Jahr die Heerführer, Statthalter, Verwalter und Richter, und traf die übrigen Anordnungen nach seinem Gutdünken; er selbst blieb aber sein Leben lang in Ninus. Ihm glichen die folgenden Könige, während einer Reihe von dreißig Menschenaltern, wo immer der Sohn vom Vater die Herrschaft erbte, bis auf Sardanapal. Unter diesem König fiel nämlich das Assyrische Reich an die Meder, nachdem es über 1360 Jahre bestanden hatte, wie Ktesias von Kridos im zweiten Buche sagt.
22.
(…)
23.
Sardanapal, der letzte König der Assyrer, der dreißigste von Ninus an, dem Stifter des Reichs, übertraf alle seine Vorgänger an Vergnügungs- und Genußsucht. (...) So weit trieb er es in der Schwelgerei und in der schändlichsten Ausschweifung und Unmäßigkeit, daß er auf sich selbst folgende Grabschrift machte, die, seinem Verlangen gemäß, der Nachfolger nach seinem Tod auf sein Grabmal sehen sollte, und die aus der Landessprache, in welcher er sie geschrieben, später von einem Griechen übersetzt worden ist:
,,Sterblich bist du; gedenke daran, und, des Lebens dich freuend,
Stille des Herzens Gelüst; kein Wohlseyn blühet dem Todten.
Staub nun bin ich, obwohl einst König des herrlichen Ninus.
Nur, was der Gaumen, muthwilliger Scherz, und die Lieb' an Genüssen
Mir gewährten, ist mein; sonst jegliche Güter verließ ich.“
Ein Mann von solcher Sinnesart mußte nicht nur selbst ein schmähliches Ende nehmen, sondern er führte auch die völlige Zerstörung des Assyrischen Reichs herbei, das unter den bekannten Weltreichen am längsten gedauert hat.
24.
Arbaces, ein geborner Meder, der sich durch Tapferkeit und Geistesvorzüge auszeichnete, war Anführer der Medischen ́Truppen, die auf ein Jahr nach Ninus geschickt waren. Im Lager wurde er mit dem Heerführer der Babylonier bekannt. Dieser forderte ihn auf, der Assyrischen Oberherrschaft ein Ende zu machen. Er hieß Belesys, und war einer der angesehensten unter den Priestern, die man in Babylonien Chaldäer nennt. Als ein sehr erfahrner Sterndeuter und Wahrsager verkündigte er häufig zukünftige Dinge mit Sicherheit voraus, und erlangte dadurch großes Ansehen. So sagte er denn auch dem Medischen Heerführer, seinem Freunde, vorher, Dieser sey zum König über das ganze Gebiet, das Sardanapal beherrsche, zuverläßig bestimmt. Arbaces ließ sich den Vorschlag des Mannes gefallen, und versprach ihm die Statthalterschaft von Babylonien auf den Fall, daß das Unternehmen gelänge; und wie durch eine Gottesstimme zu Hoffnungen begeistert, verband er sich schon mit den Heerführern aus andern Völkern, und suchte sie durch Gastmahle und öffentliche Zusammenkünfte, die er veranstaltete, zu gewinnen, und sich der Freundschaft jedes Einzelnen zu versichern. Er wünschte sehr, den König von Angesicht zu sehen, und seine ganze Lebensweise zu beobachten. Ein Verschnittener, dem er eine goldene Schale schenkte, führte ihn zu Sardanapal hinein. Da überzeugte er sich deutlich, daß der weichliche Mann blos um weibliche Geschäfte sich bekümmerte; und nun hielt er, den nichtswürdigen König verachtend, die Hoffnungen nur um so fester, die ihm der Chaldäer gemacht hatte. Endlich traf er mit Belesys die Verabredung, er selbst wollte die Meder und Perser aufwiegeln, und Jener sollte die Babylonier zur Theilnahme an der Empörung bewegen, und zu der ganzen Unternehmung auch seinen Freund, den Statthalter von Arabien, beiziehen. Als das Dienstjahr vorüber war, so wurden die Truppen im Lager durch ein anderes Heer abgelöst, und, nach der eingeführten Ordnung, in ihre Heimath entlassen. Jetzt ermunterte Arbaces die Meder, sie sollten sich die Oberherrschaft erkämpfen; die Perser aber forderte er auf, die Freiheit zu erringen, um dann auch an der höchsten Gewalt Theil zu nehmen. Ebenso erregte Belesys bei den Babyloniern das Streben nach Freiheit, und nach Arabien reiste er selbst, um, seinem Auftrag gemäß, den dortigen Statthalter, seinen Bekannten und Gastfreund, für den Plan zu gewinnen. Nachdem wieder ein Jahr verflossen war, so kamen sie Alle mit einer großen Zahl von Soldaten vor Ninus zusammen; dem Schein nach, um die Truppen, wie es gewöhnlich war, abzulösen, in der That aber, um der Oberherrschaft der Assyrer ein Ende zu machen. Als die vier oben genannten Völker auf Einem Platze sich versammelt hatten, so betrug ihr ganzes Heer gegen 400.000 Mann. Sie waren in Einem Lager vereinigt, und beriethen sich gemeinschaftlich, was zu thun wäre.
25.
Sobald Sardanapal erfuhr, daß sie sich empörten, so ließ er die Truppen der andern Völker gegen sie ausrücken. Zuerst wurde in der Ebene ein Treffen geliefert, in welchem die Aufrührer geschlagen, und mit großem Verlust auf ein Gebirge zurückgetrieben wurden, das von Ninus 70 Stadien entfernt ist. Nachher kamen sie wieder in die Ebene herab, und rüsteten sich zur Schlacht. Sardanapal stellte sein Heer ihnen gegenüber. Zuvor aber ließ er im feindlichen Lager bekannt machen, Wer den Meder Arbaces tödte, der bekomme von Sardanapal 200 Goldtalente, und, Wer ihn lebendig ausliefere, noch einmal so viel und dazu die Stadthalterschaft von Medien. Aehnliche Belohnungen versprach er Dem, der den Babylonier Belesys erschlüge oder gefangen nähme. Als aber Niemand auf diese Versprechungen achtete, so lieferte er eine Schlacht, worin Viele der Empörer umkamen, und das übrige Heer bis in das Lager auf den Gebirgen verfolgt wurde. Arbaces ließ seine Freunde, die durch die Niederlage den Muth verloren hatten, zusammenkommen und sich berathen, was nun zu thun wäre. Die Meisten waren der Meinung, es sollte Jeder in seine Heimath ziehen, und feste Plätze in Besitz nehmen, und sich sonst mit Kriegsbedürfnissen so reichlich als möglich versehen. Belesys aber, der Babylonier, behauptete, nach den Andeutungen der Götter müßten sie mit Mühe und Anstrengung das Ziel ihrer Wünsche erreichen. Durch diese und andere dringende Vorstellungen bewog er die Uebrigen zu dem Entschluß, allen Gefahren sich zu unterziehen. Es kam wiederum zur Schlacht, und der König siegte abermals; er eroberte das Lager der Empörer, und verfolgte die Ueberwundenen bis an die Gränzen von Babylonien. Arbaces selbst war verwundet; er hatte ruhmvoll gekämpft und viele Assyrer erlegt. Nach so schweren und immer wiederholten Unfällen gaben die Anführer der Abtrünnigen die Hoffnung des Sieges auf, und machten Anstalt, auseinanderzugehen und je in ihre Heimath zurückzukehren. Allein Belesys, nachdem er eine ganze Nacht unter freiem Himmel mit fleißiger Beobachtung der Gestirne zugebracht, erklärte den Muthlosen, die an dem Erfolg verzweifelten, wenn sie nur noch fünf Tage warten wollten, so würde von selbst Hülfe erscheinen, und durch einen mächtigen Umschwung der Dinge das Glück sich wenden; Das sehe er aus Vorbedeutungen, die er vermittelst seiner Sternkunde von den Göttern erhalte; er bitte sie daher, nur so lang noch auszuharren, damit sie sich von seiner Kunst und der Gnade der Götter durch Erfahrung überzeugen.
26.
Es wurden nun Alle wieder zurückgerufen, und man wartete noch die bestimmte Zeit. Da kam die Nachricht, es nähere sich ein Heereszug aus Baktrien, der dem König zu Hülfe eile. Jetzt entschloß sich Arbaces mit seinen Freunden, den Heerführern auf dem kürzesten Weg entgegen zu gehen, mit den tapfersten und rüstigsten Soldaten, damit man die Baktrier, wenn sie nicht durch Zureden sich bewegen ließen, an die Abtrünnigen sich anzuschließen, mit den Waffen zwingen könnte, an den Entwürfen Derselben Theil zu nehmen. Gerne folgten dem Ruf zur Freiheit zuerst die Anführer, dann das ganze Heer; und nun bezogen Alle ein gemeinschaftliches Lager. Der König von Assyrien, der von dem Abfall der Baktrier Nichts wußte, gab sich im erhebenden Gefühle seines bisherigen Glücks unterdessen dem Vergnügen hin, und theilte unter seine Soldaten Schlachtvieh aus und Wein in Menge und andere Bedürfnisse, damit auch sie sich gütlich thun konnten. Während das ganze Heer schmauste, erfuhr Arbaces durch Ueberläufer, daß man sich im feindlichen Lager der Fröhlichkeit und Trunkenheit überließ, und griff mit seinen Leuten bei Nacht unversehens an. Da fielen geordnete Schaaren über zerstreute, gerüstete über unvorbereitete her; sie eroberten das Lager, tödteten viele Feinde, und verfolgten die Uebrigen bis in die Stadt. Hierauf ernannte der König den Salämenes, den Bruder seiner Gemahlin, zum Feldherrn; er selbst übernahm die Vertheidigung der Stadt. Die Empörer lieferten in der Ebene vor der Stadt noch zwei Schlachten, in welchen sie die Assyrer besiegten; Salämenes kam um, und mit ihm beinahe alle seine Soldaten; sie wurden zum Theil auf der Flucht niedergemacht, zum Theil von der Stadt abgeschnitten und durch den Andrang der Feinde in den Euphrat hineingetrieben. Es war eine solche Menge von Todten, daß der vom Blut geröthete Strom auf eine ziemliche Strecke hin seine natürliche Farbe veränderte. Als jetzt der König eingeschlossen und belagert wurde, so gingen noch viele Völkerschaften auf die Seite der Abtrünnigen über, Alle in der Hoffnung auf die Freiheit. Da Sardanapal das ganze Reich in der drohendsten Gefahr sah, so schickte er seine drei Söhne und zwei Töchter mit vielen Schätzen nach Paphlagonien zu dem Statthalter Kottas, dem Treusten seiner Unterthanen. Zugleich sandte er Boten aus an alle seine Diener, um Truppen aufzubieten und sich auf die Belagerung zu versehen. Ein Götterspruch, der schon seit der Väter Zeit bekannt war, sagte ihm, die Stadt Ninus würde Niemand mit Sturm erobern, bis der Fluß ihr Feind würde. Das Letztere aber, meinte er, würde nie geschehen; also hielt er fest an seinen Hoffnungen, entschlossen, die Belagerung auszuhalten, und die Truppen, die ihm seine Untergebenen schicken sollten, zu erwarten.
27.
Die Empörer, durch ihr Waffenglück ermuthigt, betrieben die Belagerung mit Ernst, konnten jedoch, bei der Festigkeit der Mauern, der Stadt Nichts anhaben. Denn die Steinschleudern, die Schilddächer zum Ausfüllen der Gräben und die Werkzeuge zur Zerstörung der Mauern waren zu jener Zeit noch nicht erfunden. Von allen Bedürfnißen hatte man in der Stadt einen reichen Vorrath; denn in diesem Stück hatte der König für die Zukunft gesorgt. Daher verzog sich die Belagerung lange; zwei ganze Jahre wurden Immer wiederholte Angriffe auf die Mauer gemacht, und der Verkehr zwischen der Stadt und der Umgegend gesperrt. Im dritten Jahr aber geschah es, daß durch anhaltende heftige Regengüsse der Euphrat so stark anschwoll, daß ein Theil der Stadt überschwemmt wurde und auf eine Strecke von 20 Stadien die Mauer einstürzte. Jetzt, glaubte der König, sey der Götterspruch erfüllt, da offenbar der Fluß ein Feind der Stadt geworden sey, also verzweifelte er an der Rettung. Um aber nicht in die Hände der Feinde zu fallen, ließ er im Pallast einen ungeheuern Scheiterhaufen errichten. Oben auf denselben warf er alles Gold und Silber und den ganzen Königsschmuck; seine Kebsweiber und Verschnittenen schloß er in ein Gemach ein, das im Innern des Scheiterhaufens gebaut war. So verbrannte er mit Allem zusammen sich selbst und den Pallast. Als die Empörer von Sardanapal's Ende hörten, so drangen sie über die eingefallene Mauer herein, und eroberten die Stadt. Den Arbaces bekleideten sie mit dem königlichen Gewand, riefen ihn zum König aus, und übertrugen ihm die unumschränkte Gewalt.
28.
Der neue König belohnte seine Kampfgenossen nach Würden, und ernannte sie zu Statthaltern über ganze Völker. Da brachte denn auch Belesys, der Babylonier, der ihm die Herrschaft über Asien geweissagt hatte, seine Verdienste in Erinnerung, und verlangte, daß ihm das Gebiet von Babylonien überlassen würde, wie es ihm von Anfang versprochen war. Zugleich versicherte er, in der Zeit der Gefahr habe er dem Belus ein Gelübde gethan, wenn Sardanapal besiegt und das königliche Schloß verbrannt würde, so wollte er den Schutt von der Brandstätte nach Babylon führen, und daraus neben dem Heiligthum des Gottes einen Hügel bilden, daß Jeder, der den Euphrat herabschiffte, das unvergängliche Denkmal von der Zerstörung des Assyrischen Reichs vor sich sähe. Nun bat er, daß ihm Das gestattet würde. Er hatte nämlich von einem Verschnittenen, der entkommen war und sich zu ihm geflüchtet hatte, und den er verborgen hielt, erfahren, wohin das Silber und Gold gekommen sey. Arbaces wußte davon nichts, weil alle Bewohner des Pallastes mit dem König verbrannt waren; daher erlaubte er dem Belesys, den Aschenhaufen wegzuführen, und Babylon in Besitz zu nehmen, ohne daß er zinsbar würde. So ließ denn Belesys Schiffe rüsten, und mit dem Schutt, das Silber und Gold, das man größtentheils noch fand, eilig nach Babylon führen. Allein der Betrug wurde dem König auf der Stelle angezeigt, und Dieser ernannte die übrigen Heerführer zu Richtern ihres Streitgefährten. Der Beklagte gestand sein Vergehen, und die Richter verurtheilten ihn zum Tode. Der König aber, nach seiner Großmuth, und um den Anfang seiner Regierung durch Milde zu bezeichnen, begnadigte den Belesys, und ließ ihm das Silber und Gold, das er weggeführt hatte; auch die Herrschaft über Babylonien, die ihm von Anfang bestimmt war, nahm er ihm nicht ab. Denn er dachte, die Verdienste, welche sich der Mann früher erworben, überwiegen die Schuld, die er nachher auf sich geladen. Durch diese Handlung der Milde, die überall bekannt wurde, erwarb er sich in hohem Maß die Zuneigung seiner Unterthanen, und zugleich ihre Achtung; denn als ein Beweis, daß er des Thrones würdig sey, wurde ein solches Verfahren gegen Schuldige allgemein anerkannt. Auch die Bewohner der Stadt behandelte Arbaces mit Schonung; er vertheilte sie auf Dörfer, und erstattete Jedem seine Güter; die Stadt aber machte er dem Boden gleich. Das Silber und Gold, das auf der Brandstätte noch übrig war, viele Talente an Werth, ließ er nach Ekbatana in Medien bringen. Auf diese Art wurde das Assyrische Reich von den Medern zerstört, nachdem es, von Ninus an, 30 Menschenalter hindurch, über 1300 Jahre gedauert hatte.