Diese Geschichte erschien vor erschreckend langer Zeit in einer Kurzgeschichtensammlung des Wurdack-Verlags. Trotzdem erinnere ich mich noch daran, wie ich auf die Idee kam. Ich hatte im Büro erzählt, dass ich am Wochenende zu einer Ü30-Party gehen wollte, und man versorgte mich netterweise mit den üblichen Bezeichnungen für solche Veranstaltungen: Gammelfleischparty o.ä. Sicherlich alles sehr witzig, aber ein anderer Begriff zündete sofort: Mumienschubsen. (Habe ich schon erwähnt, dass das bereits eine erschreckend lange Zeit her ist?)
Was wäre, wenn auf einer solchen Feier tatsächlich Mumien einander herumschubsten? Hier ist noch einmal das Ergebnis, das mir zu dieser Frage seinerzeit eingefallen ist.
Michael Böhnhardt
Mumienschubsen
Auf dem Tisch vor mir stand ein Radler, und auch das war eigentlich mehr Dekoration. Seitdem ich tot bin, vertrage ich einfach weniger. Mein Magen und meine Leber sind leider nicht mehr das, was sie zu meinen Lebzeiten waren.
Der Laden war wie üblich gerammelt voll. Während ich das Gewimmel betrachtete, schätzte ich, dass aus gut der Hälfte aller Särge auf dem Friedhof ihre Insassen ausgebüxt waren. Als Leiche bietet sich einem nicht viel Abwechslung, hin und wieder trauernde Spaziergänger und das Gezeter aus den Nachbargräbern in der Nacht; darum, wenn in den vergessenen Katakomben unter dem Friedhofshügel allmonatlich eine Party gefeiert wurde, blieben nur die griesgrämigsten Einsiedler fern.
Hier unten im Gewölbe spendeten Gaslaternen bloß schummriges Licht. Für manche der Gestalten, die hereintaumelten, knurrend, mit staubenden Klamotten, war es trotzdem noch viel zu hell. Doch das waren nur Äußerlichkeiten. Die verwesen schnell. Auf die inneren Werte kommt es an, wie schon mein Großvater immer sagte. Da hat er recht gehabt. Stabile Knochen sind beim Tanzen in meinem Zustand Gold wert.
Vor allem, wenn der DJ so wie jetzt ein etwas härteres Stück auflegt. Der Clubbesitzer ließ warnend seine Augen rotieren. Er mochte es nicht, wenn den Tänzern diverse Körperteile abfielen, weil sie sich zu sehr in die Musik hineinsteigerten. Eigentlich verständlich, denn er musste dafür sorgen, dass die Schweinerei hinterher wieder aufgeräumt wurde. Und es kann ziemlich eklig werden, wenn Zombies abrocken. Ich habe schon erlebt, wie beim Headbanging auf dem »Highway to hell« Köpfe durch die Gegend flogen. Kein schöner Anblick. Trotzdem übertrieb der Mann. Wenn es nach ihm ginge, hätte man nur Walzer spielen dürfen. Langsamen Walzer. Also bitte. Wir waren tot und nicht im Altersheim.
Heute war mit viel Frischfleisch zu rechnen. Im vergangenen Monat hatten zehn Beerdigungen stattgefunden, und ein Blick auf die Daten auf den Grabsteinen verriet, dass zumindest einige der Damen einen aus unserer Sicht lobenswerten Ratschlag mehr oder weniger beherzigt hatten: Stirb jung und gib eine schöne Leiche ab.
Im Moment jedoch sah ich nur bekannte Gesichter. Ein paar Tische weiter entdeckte ich Maria, die schärfste Braut auf dem ganzen Friedhof. Für einen Leichnam war sie eine sehr umtriebige Person. Schon allein ihre drei Ehemänner garantierten ihr ein ausgiebiges Liebesleben. Offenbar nahm es ihr keiner von ihnen sonderlich übel, dass sie ihn mit Gift unter die Erde gebracht hatte. Auch die außerehelichen Eskapaden, die sie sich, wie ich aus eigener Erfahrung wusste, nebenher noch leistete, wurden geflissentlich übersehen.
Die Ewigkeit vor Augen, wird man zwangsläufig toleranter. Sich aus dem Wege zu gehen, gestaltet sich hier etwas schwierig, und drastischere Maßnahmen haben wir inzwischen alle hinter uns gelassen.
Heute Abend war sie mit Ehemann Nummer zwei hier, der ihr mit besorgniserregender Inbrunst auf die Pelle rückte. Wenn er sich nicht etwas zurückhielt, würde er ihr nicht nur die Garderobe durcheinanderbringen.
Aus dem Halbdunkel tauchte plötzlich Helen auf. Helen. Tja, wie sage ich es am diplomatischsten? Sie war schon zu Lebzeiten keine Schönheit gewesen, und das hat sich seither nicht gebessert. Sie verharrte geduldig, hoffte, dass ich so höflich wäre, sie mit einer Handbewegung zum Platznehmen aufzufordern. Da konnte sie lange warten. Das war nicht nett, sicher. Doch ich bin auch nicht nett. Das kann ich mir nicht erlauben. Ich bin immerhin tot.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Zugegeben, an Helen hatte mehr als nur der Zahn der Zeit genagt. Aber an wem von uns nicht? Das war beileibe nicht der Grund für die kalte Schulter, die ich ihr zeigte. Nein, ich war schon einmal auf sie hereingefallen, und das genügte mir. Sie langweilte sich unerträglich mit ihrem Mann, der seinen Ruhestand damit verbrachte, akribisch die Würmer zu katalogisieren, die durch seine Eingeweide krabbelten. Manchmal versank er so in dieser Passion, dass ihr keine andere Wahl blieb, als ihn ein bisschen eifersüchtig zu machen, um ihn an sie zu erinnern.
Sie hatte mich damals dazu gebracht, sie in meine Grabstelle einzuladen. Keine sehr repräsentative Behausung, muss ich zugestehen. Nur ein billiger Fichtensarg. Geiz rächt sich, wenn man es am wenigsten erwartet. Aber was soll’s? Die Entscheidung »Zu dir oder zu mir?« kann nicht immer in einer komfortablen Familiengruft enden. Außerdem kann die restliche Sippschaft dort ganz schön die Stimmung vermiesen, glauben Sie mir.
Wenn wir schon dabei sind: So etwas wie Privatsphäre ist auf dem Friedhof allgemein Mangelware, wie Sie sich vielleicht vorstellen können. Man gewöhnt sich daran. Man hat auch keine andere Wahl.
Wie dem auch sei, Helen hatte mir jedenfalls versichert, ihrem Göttergatten sei jegliche Eifersucht fremd.
»Und wenn er trotzdem auftaucht?« Ich prügle mich ungern, besonders, wenn ich nicht im Recht bin.
»Was soll er machen? Uns umbringen?«
Der Punkt ging an sie. Trotzdem, natürlich tauchte er auf. Darauf lauerte sie die ganze Zeit, während sie sich zierte, etwas von den matronenhaften Fetzen abzulegen, in denen man sie beerdigt hatte. So musste sie nicht verschämt irgendwelche Blößen verdecken, als er dann doch in unser Schäferstündchen platzte. Wir stritten eine Weile herum, sehr zur Freude der Nachbarn, die aus ihren Särgen herauslugten, und versetzten einander als Zugabe ein paar halbherzige Schläge. Schließlich zog Helen mit ihm ab, überglücklich, dass er sich nach all den Jahren doch noch für sie interessierte. Manchmal sogar mehr als für seine Würmer.
Für solche Spielchen ist mir meine Zeit zu schade. Ich bin tot. Ich verwese. Meine Chancen schwinden dahin. Nach einer Weile kapierte sie es und verschwand beleidigt.
Der DJ legte jetzt langsame, verschmuste Nummern auf. Eng umschlungen wiegten sich verrottende Gestalten auf der Tanzfläche, presste sich gärendes Fleisch aneinander.
Ich begann mich zu langweilen und grübelte, ob ich nicht vielleicht doch besser auf Helen hätte eingehen sollen. Eine Kabbelei besaß wenigstens einen gewissen Unterhaltungswert. Und wenn ich mich ein bisschen ins Zeug legte, wer weiß, vielleicht ging ihr auf, dass es zu ihrem Schnarchsack durchaus Alternativen gab. Der Tod ist nicht das Ende. Manche Paare hatten es pflichtbewusst fünfzig Jahre lang und länger miteinander ausgehalten, doch das hieß nicht, dass sie auch die Ewigkeit miteinander teilen mussten.
Dann entdeckte ich ein unbekanntes Gesicht. Eine Frau, wie man sie hier leider nur selten trifft. Schon ein wenig ramponiert vielleicht, aber nichtsdestotrotz ein Traum von einer Leiche. Von weiblicher Seite schlug ihr blanker Hass entgegen, und von männlicher Seite … Jetzt hieß es schnell handeln. Die Konkurrenz schläft nicht, auch wenn sie tot ist.
Ich pirschte mich an sie heran. Aus der Nähe erkannte ich, dass sie viel von ihrer Schönheit der erstklassigen Arbeit ihres Bestatters verdankte. Man hatte sie perfekt hergerichtet und auf lebensecht geschminkt. Sie musterte die versammelte Schar und schien unschlüssig zu sein, ob sie hier richtig war. Dieses Gefühl kannte ich.
»Keine Angst«, sagte ich. »Die Toten beißen nicht.«
»Ich schon, wenn es sein muss.«
Sie wirkte jedoch nicht wirklich abweisend. Also blieb ich dran und brachte den ultimativen Anmachspruch: »Du siehst gar nicht wie eine Leiche aus. Hast du dich verlaufen?«
»Ich bin nicht von hier.«
»Na ja, das sind wir alle nicht.«
»Nein, ja, klar. Ich meine, ich komme jetzt grade vom Südfriedhof.«
Nobles Fleckchen. »Und wie bist du hergekommen?«
»Getrampt. Und ob du’s glaubst oder nicht, der Kerl ist tatsächlich frech geworden.«
»Natürlich glaub ich das. Du bist doch allerhöchstens drei Wochen tot.«
»Alter Schmeichler.«
Reine Übungssache. »Und, wie bist du ihn losgeworden?«
»Je nachdem, wo sie ihn beisetzen, wirst du ihn das bald selbst fragen können.«
Offenbar war der Mann mehr als zudringlich geworden. »Wenn du immer so rabiat auf Annäherungsversuche reagierst, sollte ich vielleicht einen großen Bogen um dich machen.«
»Kommt auf die Annäherungsversuche an, die du im Kopf hast.«
»Ist Tanzen schon zu unanständig?«
»Nur wenn deine Hände dabei zu tief nach Süden wandern.«
Dabei liebe ich den Süden. Wir drängelten uns in Richtung Tanzfläche durch torkelnde Zombies hindurch. Ich erntete neidische Blicke und musste mehr als einmal einem hinterhältigen Fußtritt ausweichen, der nach meinen morschen Knochen zielte, um mich außer Gefecht zu setzen. Hier herrschte Krieg. Das bin ich inzwischen gewohnt.
Wir tanzten eng genug, um uns unterhalten zu können. Es dauerte nicht lange, dann kamen wir zwangsläufig zum Thema Nummer Eins. Wie wir gestorben waren.
Ich habe darüber verschiedene Versionen auf Lager. Manchmal bin ich beim Retten eines Babys aus einem brennenden Haus von den Flammen verschlungen worden. Wenn die betreffende Frau mich dann nicht spöttisch ansieht, weiß ich, dass ich diese Nacht zum Zuge kommen werde. Für etwas cleverere Damen habe ich Autounfälle, tödliche Krankheiten und, meine Lieblingsgeschichte, eine Geiselnahme nach einem Banküberfall in meinem Repertoire. Wie sehr ich die Sachen ausschmücke, hängt von der Situation ab.
Die Wahrheit erzähle ich selten.
Wenn Claudias Geschichte stimmte, war sie aus dem Dachfenster gestürzt, als sie sich hinausgelehnt hatte, um ihre Katze vom Sims zu klauben. Das undankbare Biest hatte sie gekratzt und der Schmerz sie die Balance verlieren lassen. Konnte sogar wahr sein. Katzen traue ich jede Hinterlist zu.
Der DJ beendete seine Schmusephase, bevor ich mich entscheiden konnte, welchen Tod ich ihr auftischen sollte. Wir hopsten eine Zeitlang zwischen all den anderen zappelnden Leichen herum. Zombies sind alles andere als elegant. Aber es ist ihnen egal. Dann bemerkte ich, dass mein Knie kurz davor war, seinen Dienst aufzugeben. Ich bin nun wirklich nicht mehr der Jüngste. Es empfiehlt sich, das ist jedenfalls meine Meinung, dies vor einer Frau, die man gerade anbaggert, nach Möglichkeit zu verbergen.
Darum fragte ich: »Lust auf was zu trinken?«
Sie nickte und wir kämpften uns zur Bar durch.
Wir ließen uns von dem klapprigen, ewig grinsenden Gerippe hinter der Theke Cocktails mixen. Wie immer wurde die Dame von unzähligen Zombies umlagert, die sie geifernd anhimmelten. Keine Ahnung, was sie an ihr fanden. Ich bevorzuge Frauen, an denen wenigstens ein bisschen Fleisch dran ist.
»Bist du schon lange tot?«, fragte Claudia.
»Zwei Jahre.«
»Und wie ist es so?«
»Kein großer Unterschied zu vorher.«
Manchmal funkt es, manchmal nicht. So ist es im Leben, und so ist es auch im Tod. Diesmal funkte es. Wir verstanden uns ausgezeichnet, redeten stundenlang. Tote haben eine Menge Gesprächsstoff. Außerdem hatte ich das Gefühl, ich könne ihr alles erzählen. Ich erzählte ihr sogar, wie ich in Wirklichkeit gestorben war.
Um uns herum rauschte die Party. Betrunkene, ausgelassene Zombies fegten in Rudeln über die Tanzfläche, sangen und johlten und schleuderten unbekümmert ihre Gliedmaßen durch den Raum. Die Musik dröhnte. Leidenschaften erwachten. Verführerisches Lächeln ließ Zähne in Totenschädeln aufblitzen, die von welken Haarsträhnen umweht wurden. Zerfetzte Klamotten enthüllten bläulich schimmerndes Fleisch, leblos und voller Begehren.
»Ich habe es mir immer anders vorgestellt«, sagte Claudia.
Es wurde spät. Das Gewölbe leerte sich langsam. Ein paar letzte Unverdrossene drehten sich zur jetzt wieder langsamen Musik. Ein paar letzte Jäger spähten noch immer wider jede Hoffnung auf neue Gelegenheiten. Hier und da verstreut lagen verschiedene Körperteile herum. Ihre Besitzer schienen sie nicht zu vermissen.
»Wir sollten langsam aufbrechen«, sagte Claudia.
Der eiskalte Nachtwind fegte mir buchstäblich bis in die Knochen. Ich dachte an den Fichtensarg und wie ich sie überreden könnte, mich in diesen zu begleiten. Vielleicht konnte ich ihr Interesse für eine Würmersammlung wecken.
Im fahlen Mondlicht wirkte ihr Lächeln fast lebendig.
»Noch lebenslustig? Was hältst du von einem Ausflug zu mir auf den Südfriedhof?«
Eine solche Einladung ablehnen, mal ehrlich: So tot kann man gar nicht sein.