Vor Kurzem habe ich während meines Urlaubs Dostojewskis “Dämonen” gelesen. Der Autor verwendet hier einen Ich-Erzähler und beschreibt viele Handlungen über Dialoge. Dadurch wird der Leser gezwungen, sich zu fragen, inwieweit er die Geschehnisse genauso bewertet wie der Erzähler. Das geht noch weiter: Kann man als Leser überhaupt darauf vertrauen, dass die beschriebenen Dinge korrekt wiedergegeben sind? Die Darstellungen sind auf jeden Fall gefärbt. Jeder Erzähler nimmt die Welt unterschiedlich wahr, und bei der Wiedergabe ist zu berücksichtigen, an wen sich die Erzählung richtet und welchen Zweck der Erzähler verfolgt. Das ist zwar nichts grundlegend Neues, aber beim Lesen der “Dämonen” fiel es mir eben noch einmal explizit auf.

Eine der Hauptfiguren des Buches, Stepan Trofimowitsch, besitzt die Angewohnheit, seine Redebeiträge mit französischen Bonmots zu garnieren. Höchstwahrscheinlich besteht ein Running Gag darin, dass diese Bonmots häufig unpassend sind. Dumm ist nur: Sicher kann ich da nicht sein, ich kann kein Französisch; und der Übersetzer meiner gemeinfreien Version, Hermann Röhl, und auch der Verlag hielten es seinerzeit wohl für unnötig, die französischen Passagen (in einer Fußnote etwa) zu übersetzen.

Zwar habe ich das Buch trotzdem komplett gelesen, aber es hat mich doch gewurmt. Daher habe ich, als ich später wieder die Gelegenheit dazu hatte, nachgesehen, ob es Ausgaben gibt, die Leuten wie mir, die mit dem Französischen ein wenig fremdeln, entgegenkommen. Dabei bin ich auf die relativ neuen Übersetzungen von Swetlana Geier im Insel-Verlag gestoßen. Diese haben zum einen erklärende Fußnoten, sowohl für die französischen Ausdrücke als auch für viele andere zeitgenössische Besonderheiten. Zum anderen bin ich allgemein auf die Ansicht gestoßen, dass die Übersetzungen von Frau Geier alles Bisherige in den Schatten stellen.

Ich habe mir ein paar Videos über Swetlana Geier angesehen. An einer Stelle eines Interviews horchte ich auf. Sie sprach darüber, dass eine Übersetzung niemals ein Doppelgänger des Werkes sein könne, aber dass trotzdem der Übersetzer nicht versuchen sollte, den Autor zu verbessern. Ihr Beispiel war der Beginn von "Schuld und Sühne" (in ihrer Version "Verbrechen und Strafe"), wo Raskolnikow, zu diesem Zeitpunkt noch namenlos "ein junger Mann", im russischen Original wohl eindeutig aus seiner Kammer, die im fünften Stock unter dem Dach liegt, direkt auf die Straße tritt. Frau Geier erläuterte, dass die meisten Übersetzer an dieser Stelle immer zwangsläufig bedacht haben, dass das physisch unmöglich ist, und ihren Text entsprechend verbogen hätten, etwa Hermann Röhl:

An einem der ersten Tage des Juli – es herrschte eine gewaltige Hitze – verließ gegen Abend ein junger Mann seine Wohnung, ein möbliertes Kämmerchen in der S . . . gasse, und trat auf die Straße hinaus; langsam, wie unentschlossen, schlug er die Richtung nach der K . . . brücke ein.

Bei Frau Geier, die möglichst nah am Original bleiben möchte, heißt es:

Anfang Juli, es war außerordentlich heiß, trat gegen Abend ein junger Mann aus seiner Kammer, die er in der S.-Gasse zur Untermiete bewohnte, auf die Straße hinaus und ging langsam, als wäre er unentschlossen, auf die K.-Brücke zu.

Nun könnte man behaupten, das wäre Haarspalterei: Der Unterschied im Text, was das Hinaustreten betrifft, ist kaum der Rede wert. Aber er ist da (und Frau Geiers Version wirkt insgesamt deutlich eleganter). Allerdings: Bemerken die Leser, wenn sie in den folgenden Sätzen erfahren, dass die besagte Kammer unter dem Dach eines fünfstöckigen Hauses liegt, dass der junge Mann unmöglich aus seiner Kammer auf die Straße treten kann, sondern dass dieses Hinaustreten das Heruntergehen von mehreren Treppen einschließt? Ich persönlich würde das nicht. Frau Geier erzählte, dass bei einer Lesung ein Zuhörer sie darauf hingewiesen hätte, der kompliziert gebaute Satz selbst sei die Treppe, über die Raskolnikow nach draußen geht, und darum kann er im Prinzip über diesen Satz aus seiner Kammer auf die Straße treten. Frau Geier: "Und das stimmt. Ich wusste das selbst nicht, aber es stimmt."

Ehrlich gesagt, bezweifle ich ein wenig, dass Dostojewski tatsächlich so kompliziert gedacht hat, doch Frau Geier hat an dieser Stelle trotzdem Recht: Der Übersetzer sollte nicht versuchen, den Autor zu verbessern. Wenn die Entscheidung zu treffen ist, ob im Original ein Fehler vorliegt, oder ob man nur nicht versteht, was sich der Autor dabei gedacht hat, sollte man immer von Letzterem ausgehen.

Und das bringt mich auf einen Fall, bei dem ich beim Übersetzen von Guy Boothbys A Bid for Fortune, or Dr. Nikola's Vendetta auf so eine Unstimmigkeit stieß. Ich habe in diesem Beitrag den gewaltigen Unterschied beschrieben, der sich aus meiner Korrektur im Vergleich zur Anpassung eines anderen Übersetzers ergab.

Aber selbstverständlich hätten wir beide den Text nicht verbessern sollen. Wenn der Ich-Erzähler Hatteras behauptet, seine Mutter sei im Jahr seiner Geburt verstorben, und sein Vater sei ihr durch einen Taifun innerhalb von 6 Monaten nachgefolgt, und andererseits erklärt, er sei fünfzehnjährig, kurz nachdem ihn die Nachricht erreichte, als Schiffsjunge auf ein Schiff gegangen, dann muss man das eben genauso übersetzen.

Welchen Effekt hätte das erzeugt? Wenn der Leser diesen Widerspruch bemerkt, und viele werden das, weckt das seinen Verdacht: Einem Erzähler, der solche Patzer begeht, ist nicht unbedingt über den Weg zu trauen und alle seine Angaben sind mit Vorsicht zu genießen. Und der Erzähler ist hier der großspurige Tausendsassa Hatteras, und der Leser merkt bereits an seiner Erzählweise, was dies für ein Charakter ist. Wer sagt uns, dass Boothby nicht genau das bezweckt hat? (Nun ja, einige Passagen aus Interviews mit ihm, die deutlich zeigen, wie ... Bin ja schon still.)

Passend dazu fällt mir eine andere Stelle ein, die ich nicht geändert habe, wenn Hatteras und sein Begleiter tagelang an eine Wand gekettet sind, täglich Essen bekommen und Hatteras sich beschwert, dass das Geschirr nie gereinigt wird. Ich versuche mir das vorzustellen und bin dann doch etwas verwirrt. Das erinnert mich an eine Stelle aus einer Kurzgeschichte von Stephen King, wo ein Autor den Platz mit seiner Figur tauscht, und die Figur, ein hartgesottener Privatdetektiv, lernt dann im Schnellverfahren und auf die ganz harte Tour, was man in den Geschichten über ihn an grundlegenden Körperfunktionen verschämt weggelassen und was er aus diesem Grund bisher noch nie am eigenen Leib erlebt hat.

Hat Boothby wirklich nicht daran gedacht, ob er zwei Gentlemen vornehm tagelang nebeneinander an die Wand ketten kann, ausreichend mit Speis und Trank versorgt, ohne dass dies zu unappetitlichen Szenen führt? Oder hat dies auch der viktorianische Leser deutlich vor Augen und ordnet dann die Bemerkung über das schmutzige Geschirr als dämliches Geplapper des Ich-Erzählers ein? Oder vermutet er gar, die Gefangenschaft könne so nicht abgelaufen sein und fragt sich, wie möglicherweise stattdessen, und warum Hatteras das anders darstellt?

Mit so einem unzuverlässiger Erzähler kann man als Autor schon eine Menge anfangen.