Es wäre leicht, weitere Beispiele für die Tabus von Königen und Priestern anzuführen, doch die bisherigen Beispiele reichen aus, um ein klares Bild zu zeichnen. Zum Abschluss dieses Abschnitts möchte ich die allgemeinen Schlussfolgerungen zusammenfassen, die sich aus unseren bisherigen Untersuchungen ergeben haben.

Wir haben gesehen, dass in wilden oder primitiven Gesellschaften oft einzelne Menschen verehrt werden, denen die Gemeinschaft übernatürliche Macht zuschreibt. Diese Personen gelten als Mittler zwischen der menschlichen und der göttlichen Welt und werden häufig wie Götter behandelt. Ob sie dabei auch weltliche Macht ausüben oder ihre Funktionen ausschließlich spiritueller Natur sind, ist für unser Thema zweitrangig. Entscheidend ist, dass ihre angebliche Göttlichkeit sie für die Gemeinschaft zu Symbolen von Stabilität und Wohlstand macht.

Das Wohlergehen dieser „Gottmenschen“ wird als untrennbar mit dem Wohlstand der Gemeinschaft verbunden angesehen. Daher bemühen sich die Menschen, deren Lebensgrundlage von diesen Führern abhängt, darum, ihr Leben und ihre Gesundheit zu schützen. Um Unglück und Tod abzuwenden, werden strenge Regeln aufgestellt, an die sich diese besonderen Personen halten müssen. Diese Regeln basieren oft auf alten Überzeugungen und Traditionen, die einst als allgemeine Lebensweisheiten galten. Während jedoch normale Menschen frei entscheiden konnten, ob sie diesen Regeln folgen, werden sie den Gottmenschen aufgezwungen. Verstöße gegen diese Regeln führen nicht nur zu einer Absetzung, sondern manchmal sogar zum Tod.

Die Gemeinschaft hat zu viel zu verlieren, um einem solchen Anführer nachlässiges Verhalten zu erlauben. Daher unterliegt der „menschliche Gott“ einem Netz aus Vorschriften und Bräuchen, das so dicht und komplex ist, dass er kaum Handlungsspielraum hat. Diese Regeln und Traditionen, die einst von frühen Philosophen erdacht und von Generation zu Generation weitergegeben wurden, ähneln einem Spinnennetz, in dem der Gottmensch gefangen ist. Er kann sich kaum bewegen, ohne die Fäden zu berühren, die ihn umgeben. Dieses Netz aus Bräuchen ist so stark wie Eisenketten, obwohl es auf den ersten Blick leicht und unbedeutend erscheint. Letztlich kann sich der Gottmensch nur durch den Tod oder die Absetzung aus diesem Geflecht befreien.

Das Leben der alten Könige und Priester kann uns auch heute noch viel lehren. Ihre Weltanschauung fasste alles zusammen, was in den frühen Tagen der Menschheit als Weisheit galt. Es diente als Leitbild dafür, wie das Leben zu führen sei – ein vermeintlich perfektes Modell, das nach den Regeln einer damals barbarischen, aber logischen Philosophie geschaffen wurde.

Auch wenn uns diese Philosophie heute grob und fehlerhaft erscheint, darf man ihr die innere Logik nicht absprechen. Sie basierte auf der Annahme, dass das Lebensprinzip – eine Seele oder ein inneres Wesen – unabhängig vom Körper existiert und sich von ihm trennen kann. Ausgehend von dieser Vorstellung entwickelte sie ein zusammenhängendes Regelwerk für das Leben, das als System durchaus stimmig war. Der entscheidende Fehler des Systems liegt jedoch nicht in seiner Argumentation, sondern in der falschen Grundannahme über die Natur des Lebens.

Es wäre ungerecht und undankbar, diese Annahmen einfach als lächerlich abzuurteilen, nur weil wir ihre Fehler heute leicht erkennen können. Unsere heutige Sichtweise beruht auf dem Wissen und den Errungenschaften unzähliger Generationen vor uns. Es kostete die Menschheit unvorstellbare Mühen und Zeit, das Fundament unseres Wissens zu errichten, auf dem wir heute stehen. Wir verdanken unsere Fortschritte den vielen namenlosen Menschen der Vergangenheit, deren Gedankenkraft und Anstrengungen uns zu dem gemacht haben, was wir sind.

Der Beitrag eines einzelnen Menschen oder sogar einer ganzen Epoche zum gemeinsamen Wissensschatz ist klein. Es wäre töricht, arrogant oder undankbar, die immense Grundlage zu übersehen, während wir uns über die wenigen neuen Erkenntnisse freuen, die wir vielleicht hinzugefügt haben.

Heute besteht kaum die Gefahr, dass wir die Errungenschaften der modernen oder klassischen Antike unterschätzen. Doch wenn wir weiter zurückblicken, begegnen wir oft Verachtung, Spott oder Ablehnung gegenüber den sogenannten Wilden und ihren Sitten. Dabei waren viele der Wohltäter, denen wir unsere Errungenschaften verdanken, selbst Wilde. Tatsächlich überwiegen unsere Gemeinsamkeiten mit ihnen bei Weitem unsere Unterschiede. Viel von dem, was wir für grundlegend und selbstverständlich halten, wurde von unseren Vorfahren entdeckt und weitergegeben.

Wir gleichen Erben eines großen Vermögens, dessen Ursprung und Aufbau in der Zeit verloren gegangen sind. Wir betrachten es als unseren Besitz, obwohl es das Ergebnis der Arbeit vieler Generationen ist. Die Fehler unserer Vorfahren waren keine absichtlichen Irrwege, sondern Hypothesen, die in ihrer Zeit sinnvoll erschienen, sich aber durch spätere Erkenntnisse als ungenügend herausstellten.

Wahrheit entsteht nur durch die fortlaufende Prüfung und Überarbeitung von Annahmen. Das, was wir heute als Wahrheit betrachten, ist lediglich die Hypothese, die sich bisher am besten bewährt hat. Deshalb sollten wir die Fehler früherer Zeitalter als unvermeidliche Irrtümer auf dem Weg zur Wahrheit betrachten und sie mit Nachsicht beurteilen – Nachsicht, die auch wir eines Tages benötigen könnten: cum excusatione itaque veteres audiendi sunt. (Deshalb muss den Alten nachsichtig Gehör geschenkt werden, Seneca d. J., Naturales Quaestiones, Liber Vi, 5)

(Bisheriges Ende der Übersetzung. Fortsetzung in Arbeit.)

 

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