Diese Geschichte ist zugleich alt und neu. Neu zum einen, weil sie bislang unveröffentlicht geblieben ist, und zum anderen, weil ich sie im Laufe der Jahre immer wieder umgeschrieben habe. Dafür tragen die ersten Versionen auf meiner Festplatte inzwischen prähistorische Zeitstempel, und die Grundidee dürfte noch älter sein. Was sich vor allem immer wieder geändert hat, ist der letztendliche Grund, aus dem der Kamasutra-Code zu einer tückischen Falle wird. Die toxische Konstellation der Figuren, die in der aktuellen Version aufeinanderprallt, kam mir vor etwa zwei Jahren in den Sinn. Ich habe jetzt noch mal am Stil gefeilt, hier ist nun das Ergebnis.
Michael Böhnhardt
Der Kamasutra-Code
Gerade eben hatte die Tür noch gar nicht existiert, im nächsten Augenblick wurde sie mit einem bombastischen Cybereffekt aufgebrochen. Virtuelle Holzsplitter flogen in Zeitlupe um Hendrick herum, die Druckwelle fegte ihn von Teresa und ganz vom Bett herunter. Durch den Staub, der durch das Zimmer wirbelte, hasteten in schwarzes Leder gekleidete Gestalten. Sie zerflossen und vereinigten sich zu einer vertrauten Ikone, erst nur vage, dann unverkennbar: Che Guevara. Na halleluja.
»Bewegung für allumfassende Gerechtigkeit. Hacker gegen Gedankenverbrechen. Das ist eine Razzia.«
Hendrick blickte zum Bett, auf dem Teresa noch immer reglos wartete, nackt, auf allen Vieren, die üppige Lockenmähne über ihr gesenktes Gesicht drapiert. Wahrscheinlich ganz gut so. Die Situation konnte man leicht falsch verstehen.
»Hier spielt die Musik, Perversling. Reißen Sie sich los, das Ding besteht nur aus Bits und Bytes und anschmiegsamen Algorithmen.«
»Gedankenverbrechen? Wollen Sie mich verarschen? Sehen Sie zu, dass Sie Land gewinnen!«
»Das hätten Sie wohl gern.«
»Ja, allerdings.« Hendrick konnte aufstehen, aber seine Füße waren wie am Boden festgenagelt.
»Wir nehmen uns die Befugnisse, die wir brauchen.«
»Elender Spanner. Lassen Sie mich wenigstens was anziehen.«
»Wieso? Haben Sie was zu verbergen?«
»Mann, ich hetze Ihnen die Bullen auf den Hals, verlassen Sie sich drauf.«
»Die Bullen ... Die ganze Welt wird es erfahren, wenn wir etwas finden. Und wir finden meistens was.«
»Kunststück, wenn man sich über jeden Kleinscheiß aufregt.«
»Die ganze Welt, das heißt Chef, Kollegen, Nachbarn, Familie ...«
»Ist mir neu, dass Cybersex-Simulationen inzwischen verboten sind.«
»Es ist nicht die Sache an sich, es sind die Details, all der unerträgliche Schmerz, der anderen Menschen gedankenlos zufügt wird.«
»Schmerzen zufügen, das sagt mal der Richtige. Allein die Kopfschmerzen, die ich von diesem Gequatsche bekomme ...«
»An Ihrer Stelle wäre ich höflicher.«
»Zu einem Spanner, der jetzt so lange was sucht, bis er was findet, damit er eine Entschuldigung für seine Perversion hat?«
»Perversion? Ich?«
»Wer schleicht sich denn in fremde Schlafzimmer?«
»Das ist eine Simulation, das ist nicht echt ...«
»Als ob Sie Knilch schon mal eine echte Frau nackt ...«
»... und ihr glaubt, in solchen Szenarien wäre alles erlaubt. Tag für Tag perpetuiert ihr repressive Strukturen ...«
»Ernsthaft jetzt?«
»Gutes Handeln ergibt sich aus guten Gedanken. Wir werden euch zu den korrekten Gedanken zwingen. Ganz einfach.«
»Sie schnüffeln ganz einfach nur gern an anderer Leute Unterwäsche.«
»Ihr Typen widert mich echt an. Aber wir biegen euch schon hin, ob ihr wollt oder nicht. So, schauen wir mal, ob Sie sich einen Notausstieg eingerichtet haben. Nicht, dass Sie mir plötzlich abhauen.«
Unwillkürlich blickte Hendrick wieder zu Teresa.
»Sie haben am Grundsetting der Cyberwelt herumgepfuscht.« Che simulierte ein Stirnrunzeln. »Der Standardbefehl ›Computer: Ausgang!‹ wurde ersetzt, durch ... Sie Ferkel.«
Das Netz war voll von schlüpfrigen Gimmicks. Dieses hatte er sofort installiert: Eine Modifikation, die den Befehl für die Rückkehr in die Realität durch eine bestimmte Folge von Sexstellungen ersetzte. Bloß gut, dass Che nicht nachgesehen hatte, welche vier Stellungen er aus der Kamasutra-Datenbank ausgewählt hatte.
Zu früh gefreut. »Und was für ein Ferkel Sie sind.«
»Steht nicht jeder so auf's Missionieren.«
»Das hier ist suizidaler Leichtsinn. Wenn Sie die Passsequenz vergessen, hängen Sie fest. Wie lange wird es dauern, bis jemand Sie findet? Die Standardprozedur beinhaltet Sicherheitsprotokolle für den Notfall. Dieser Murks deaktiviert die. War Ihnen das klar?«
Nein. Musste man dem Kerl nicht unbedingt auf die Nase binden. »Vier Stellungen kann ich mir schon noch merken.«
»Können Sie das? Wenn ich mir die Vorlagen ansehe, ist Ihr Code geradezu langweilig. Kann man durchaus spannender gestalten.«
»Was soll ...«
»Das hier sieht interessant aus. Oder das. Davon habe ich schon mal gehört. Und das da ... Verrückte Idee.«
Ganz ruhig. Der Mann war irre. Nicht provozieren.
»Jetzt kommen Sie ins Schwitzen, was?«
Hendrick schwieg.
»Plötzlich die Sprache verloren?«
»So geht Ihre Bewegung vor? Sie bringt Menschen mit unpassenden Gedanken um? Wie viele solche ›Unfälle‹ gehen denn auf Ihr Konto?«
»Jetzt opfern Sie mal nicht so rum. Wollte Ihnen nur demonstrieren, wie gefährlich Ihre Basteleien sind. Das ist nun der Dank. Bitte schön, ich stelle Ihnen vier Mal 69 ein, dann können Sie später den Code in Ruhe neu einrichten. Zufrieden? Nun, weiter im Text ...«
»Das hat er nicht genommen. Hallo? Hören Sie mir zu?«
Che tippte auf seine Liste. »Ach ja, genau: Ist der verwendete Körper politisch korrekt?«
»Da muss eine Fehlermeldung erschienen sein ...«
»Schon allein dieses heteronormative Szenario hier. Wir werden Quoten durchsetzen, die in Sexsimulationen eingehalten werden müssen, einfach damit sich die Leute an progressive Geschlechtszuschreibungen gewöhnen.«
»Sie können den Code nicht vier Mal auf dieselbe ...«
»Ich wette, dieser Körper da strotzt vor Sexismus. Voller unrealistischer, entwürdigender Übertreibungen ...« Er trat neben das Bett, packte die Frau am Arm und zog sie herum. Sie blickte ihn an und schenkte ihm ihr betörendstes Lächeln. Er ließ den Arm los, als habe er sich verbrannt, und wich zurück. Teresa senkte wieder den Kopf, schüttelte ihr Haar zurecht und wackelte kurz mit dem Hintern.
»Wie können Sie es wagen?!«
»Äh ...«
»Sie widerlicher Abschaum, so ein Ekel erregender Misthaufen. Ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen möchte.«
»Was regen Sie sich so ...«
»Warum ich mich aufrege? Sie wollen abstreiten, dass dies ein ... ein ... ich weiß gar nicht, wie ich es nennen soll ... Das ist Teresa Santiago. Teresa Santiago!«
»Finden Sie? Sieht ihr vielleicht ein bisschen ähnlich.« Nun ja, in Wahrheit hatte er lange genug daran herumgebastelt, dass sie der Erleuchteten mehr als nur ein bisschen ähnlich sah. Er hatte wie besessen Aufnahmen und Interviews gesammelt, offizielle Videoschnipsel und private Mitschnitte von öffentlichen Auftritten. Demonstrationen, Ansprachen, Talkshows. Eine junge Frau auf dem Weg, die Welt umzukrempeln, eine Welt, die ihrem Zauber nur zu gern verfiel. Inzwischen traf er nicht allein Gesichtszüge und Mimik perfekt, ganz zu schweigen von ihrer Stimmlage; nein, er hatte selbst ihren Körper sehr überzeugend aus all diesen Aufzeichnungen heraus berechnet. Kein leichtes Unterfangen, denn Heerscharen von Medienschaffenden und Bots sorgten dafür, dass ihr öffentliches Bild makellos blieb. Und stets züchtig bekleidet. Das hatte seinen Ehrgeiz geweckt. Dieser nackte Leib, der hier vor ihnen kniete, sollte dem bedauerlicherweise unbekannten Original bestmöglich entsprechen. Dazu hatte er ausgeklügelte geometrische Simulationen durchgeführt, welche fleischliche Materieverteilung, mit der entsprechenden beobachteten Kleidung drapiert, das vorliegende Videomaterial ergeben würde. Hier kam es wirklich auf die Details an, die präzise Messung von Faltenwurf und Schattentiefe und die exakte Erfassung aller physikalischen Eigenschaften der Designerstoffe. Einen aufregenderen Zweck für mathematische, computergestützte Modellierung wüsste er jetzt nicht.
»Das ist Blasphemie«, sagte Che.
»Ich bin einfach ein Fan.«
Teresa schnurrte. Das hatte sie wirklich drauf.
»Und?«, fragte Hendrick. »Werdet ihr das öffentlich machen? Mit allen schmutzigen Details? Damit andere auf diese Idee einsteigen?«
Im nächsten Augenblick krümmte er sich am Boden. Offenbar fraßen riesige Parasiten gerade seine Eingeweide auf.
Ebenso plötzlich war der Schmerz weg.
»Das ist nicht gut«, brabbelte Che. »Das bin ich nicht. So bin ich nicht. Das bist du, der das Schlechteste in mir weckt.«
Bloß nicht antworten. Jedes Wort, egal welches, würde den Mann erneut explodieren lassen. Hendrick blickte auf und sah Che vor dem Bett stehen und die nackte Frau anstarren.
»Ich muss hier raus«, sagte Che. »Sonst kann ich für nichts garantieren. Teresa Santiago, nicht zu fassen.«
»Warten Sie ...«
Aber natürlich wartete er nicht.
Hendrick danach allerdings schon. Lange sogar, bevor er versuchte, ob wenigstens seine Fußfessel gelöst war. War sie. Er trat zum Bett und setzte sich. »Der kommt wohl nicht zurück.« Würde es der selbstgerechte Armleuchter überhaupt mitbekommen, wenn man in ein paar Tagen seine Leiche fände? Falls ja, würde er nachvollziehen können, wodurch er ihn auf dem Gewissen hatte? Seien wir ehrlich: Selbstverständlich nicht. Leicht zu erraten, was ihm durch sein fanatisches Hirn wehen würde: »Und ich habe den degenerierten Neandertaler noch gewarnt. Kranker Wichser. Konnte sich wohl doch keine vier Stellungen merken. Selbst schuld, nicht schade drum. Unsere Welt ist schöner ohne ihn.«
»Warum bist du so traurig?«, fragte Teresa. »Freust du dich nicht, dass der Mann endlich fort ist?«
»Doch, doch.«
»Aber?«
»Ich habe mich dummerweise für den Rest der Woche krank gemeldet.«
»Ich weiß. Du wolltest ein böser Junge sein.«
Manchmal gab es Situationen, da musste man den Sex rein technisch betrachten. Zum Beispiel: Wie viele Stellungen mochte es nun konkret geben, und wie viele Möglichkeiten, vier davon in einer Sequenz anzuordnen? Wobei eine Variante durchaus mehrfach vorkommen durfte, nur eben leider nicht direkt hintereinander, damit der Computer klar erkennen konnte, dass jetzt eine Neue begann. Das Detail, in dem der Teufel steckte: Deshalb akzeptierte das Programm nun mal keinen Code, der vier Mal dieselbe Stellung enthielt. Also war noch immer die Sequenz aktiv, die dieser prüde Revoluzzer zuvor wild zusammengemixt hatte.
»Einen winzigen Vorteil haben wir«, erklärte er Teresa. »Es klang ja so, als hätte er keine Position in seinem blöden Code wiederholt.« Das erhöhte seine Chancen gewaltig, nicht wahr? Wen wollte er verarschen?
»Man muss immer offen für Neues sein«, antwortete sie.
»Wohl wahr. Wie viele Stellungen hast du denn eingespeichert?«
»Du kannst das Repertoire jederzeit erweitern.«
»Ja, ich weiß. Wie viele aktuell?«
»120.«
»Doch so viele?«
»Das sind doch nicht viele.«
Na ja. Kurz überschlagen: 120 mal 119 mal 118 mal 117. Wie viele Sekunden benötigte man, um eine Stellung einzunehmen? Sagen wir nur mal eine. Schon das ergab eine verdammt große Zahl. Umgerechnet in Minuten, Stunden und Tage ...
»Was grübelst du da so ewig herum?«, schmollte Teresa.
»Wie viele Kombinationen man bilden kann. Wie lange es dauert, sie durchzuexerzieren.«
»Soll ich dir das rasch ausrechnen? Dir ist bekannt, dass ich ein Computerprogramm bin.«
Das konnte man wirklich leicht vergessen. »Nein, lass nur. Manchmal ist es nicht förderlich, sich in zu spitzfindigen Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen zu verlieren.« Er streichelte ihre Brust. »Na komm, packen wir‘s an. Zahlen sind doch nur Schall und Rauch.«
ENDE
In meinem Sudelbuch habe ich noch ein wenig über die zugehörige Kombinatorik philosophiert.