Zunächst einmal, bevor wir in weitere Überlegungen einsteigen, rate ich dringend, die dazugehörige Kurzgeschichte Der Kamasutra-Code zuerst zu lesen, denn die folgende Abhandlung verrät unvermeidlich deren Pointe. Das ist natürlich nur dann wirklich schade, falls jene Geschichte Sie überhaupt interessiert. Allerdings, wenn dies nicht der Fall ist, warum sollten Sie sich Betrachtungen über die dort verwendete Kombinatorik antun? Also, lesen Sie zuerst die Geschichte und kehren Sie anschließend bei Interesse hierher zurück; allein mit diesem Artikel werden Sie wohl nicht glücklich werden, und die umgekehrte Reihenfolge der Texte würde ich nur Leuten empfehlen, die sowieso immer zuerst das Ende eines Buches lesen, weil sie die Spannung sonst nicht aushalten.

Der Code, um den es in der Geschichte geht, besteht aus einer Sequenz von vier Symbolen, die aus einer Menge von 120 Möglichkeiten ausgewählt werden können. Und schon stoßen wir möglicherweise auf erste Zweifel an der Glaubwürdigkeit des ganzen Konzepts. Diese Symbole entsprechen Sexpositionen und sie werden dadurch eingegeben, dass der Nutzer (bzw. sein Avatar) sie in der virtuellen Realität zusammen mit der Simulation einer angeregten Gespielin einnimmt. Nun, gibt es überhaupt so viele Stellungen, könnte ein skeptisch veranlagter Leser fragen. Womöglich stößt der eigene Hausgebrauch deutlich früher an seine Grenzen und rätselt: Was um aller Welt sollte man denn noch miteinander anstellen können, ohne dass man sich was Lebenswichtiges bricht? Bei dieser Frage möchte ich nun doch meine Hände in Unschuld waschen, dies sei ganz Ihrer eigenen Phantasie und/oder Ihrem Forscherdrang überlassen. Ich habe meine entsprechende Recherche betreffs der Belastbarkeit dieser Zahl beendet, nachdem ich auf Sexratgeber gestoßen bin, die über 200 Positionen darzustellen versprechen. Expertenwissen ungeprüft zu vertrauen hat sich gesellschaftlich durchgesetzt; zudem kann ich mich im Falle eines Falles immer noch damit herausreden, dass wir uns immerhin im Cyberspace befinden, hier also Dinge möglich sind, die im echten Leben an Schwerkraft, Kondition und Biegsamkeit scheitern würden. So gesehen sind 120 eigentlich viel zu tief gegriffen. Überhaupt könnte es ja sein, dass Sie gar nicht nachvollziehen können, warum jemand bezweifeln sollte, dass es so viele Positionen gibt. Letztes Wochenende erst haben Sie zehn Neue ausprobiert und Ihr gesamtes persönliches Repertoire ist damit schon mindestens doppelt so groß, wenn nicht sogar ...

Ich denke, nach all diesen Überlegungen sind wir uns einig, dass jemand 120 Auswahlmöglichkeiten in ein entsprechendes Programm eingepflegt haben könnte. Der Code besteht aus einer Sequenz von vier dieser Stellungen, wobei nicht zwei Mal dieselbe hintereinander kommen darf, sonst könnte der Computer sie ja nicht unterscheiden. Das macht:

120 * 119 * 119 * 119

=> 202.219.080 Möglichkeiten

=> 808.876.320 eingegebene Symbole (eingenommene Sexpositionen)

In unserer Geschichte kann der Protagonist in Anbetracht der Umstände davon ausgehen, dass der aktuell gesuchte Code keine Position wiederholt. Wir haben also die klassische Variation ohne Wiederholung vorliegen.

120 * 119 * 118 * 117

=> 197.149.680 Möglichkeiten

=> 788.598.720 eingegebene Symbole

Das ist etwas besser als oben, aber immer noch verdammt viel. Gehen wir mit unserem Protagonisten optimistisch davon aus, dass die Einnahme einer Position eine Sekunde in Anspruch nimmt (obwohl das zumindest meiner persönlichen Erfahrung deutlich widerspricht). D.h. im schlechtesten Fall, wenn wirklich alle Variationen durchprobiert werden müssen, dauert das:

788.598.720 Sekunden = 547.638 Tage, also etwa 1500 Jahre

Als aufmerksamem Leser ist es Ihnen natürlich sofort aufgefallen: So ganz passt diese Rechnung nicht auf unseren Fall. Sie gibt eine obere Schranke an, aber hier braucht man deutlich weniger Eingaben. Warum? Bei einem üblichen Code stellt man sich im Prinzip ein Zahlenschloss vor, ein Symbol muss genau an einer Position des Schlosses eingeben werden. Das ist hier anders. In der Geschichte liegt ein beliebig langer Strom von eingegebenen Symbolen vor, und sobald in dieser andauernden Folge die gesuchte Sequenz auftaucht, gilt der Code als korrekt eingegeben. Wenn man nun (möglichst systematisch) zwei Variationen nacheinander absolviert, also etwa:

A - B - C - D | A - B - C - E

dann hat man implizit drei weitere Variationen zusätzlich geprüft:

B - C - D - A

C - D - A - B

D - A - B - C

Also können diese später in der systematischen Aufzählung übersprungen werden. Ja, aber wie viel macht das aus? Im obigen Beispiel prüfe ich durch Eingabe einer Variation implizit drei weitere (bisher ungeprüfte) mit. Besser geht es gar nicht. Das wird nicht immer so perfekt klappen, umso seltener, je mehr Variationen schon geprüft sind.

Was mir nicht auf Anhieb ersichtlich ist, ob dieses Vorgehen überhaupt das Bestmögliche ist: Also alle Variationen systematisch aufzählen, sich dabei merken, welche dadurch bisher schon implizit geprüft sind, und diese in der systematischen Aufzählung überspringen. Aber selbst wenn man bei der Reihenfolge der Symboleingabe noch was optimieren können sollte, so gibt es doch eine Mindestanzahl der einzunehmenden Sexstellungen, die auf keinen Fall unterschritten werden kann.

Ab dem vierten Symbol, das eingegeben wird, werden die letzten vier Zeichen als Codeversuch gewertet. Ich habe es schon erwähnt: Besser, als dass bei jedem neu eingegebenen Wert die letzten vier Symbole eine neue, bisher ungeprüfte Variation ergeben, kann es nicht laufen. Auch eine minimale Reihenfolge muss demnach mindestens

3 + (120 * 119 * 118 * 117) Symboleingaben

umfassen. Das sind 197.149.683 Symboleingaben (eingenommene Sexpositionen).

Dies entspricht (laut unserer optimistischen, aber unrealistischen Annahme) 197.149.683 Sekunden, also etwa 136.910 Tagen bzw. etwa 375 Jahren.

Dadurch wissen wir zwar nicht, wie viele Symboleingaben die optimale Reihenfolge (oder alternativ die oben skizzierte Vorgehensweise) tatsächlich erfordert, nur dass es keinesfalls weniger sind. Wir gehen mal zugunsten unseres Protagonisten davon aus, dass das Computersystem, auf dem seine Sexsimulation läuft, die beste Vorgehensweise in Nullkommanix ausknobeln kann, und dass er selbst schlau genug ist, die Wahl der nächsten Sexposition darum vom Computersystem treffen zu lassen. Damit dauert die ganze Prozedur also (wenn es schlecht läuft und erst der zuletzt ausgeführte Code passt) irgendwas zwischen 375 und 1500 Jahren. Ich denke, noch tiefer in die Mathematik einzudringen, um herauszufinden, ob die tatsächliche Laufzeit näher der unteren oder der oberen Schranke zu verorten ist, darauf können wir an dieser Stelle verzichten. Selbst die 375 Jahre wirken ja bereits hoffnungslos.

Hoffnungslos. Gibt es etwas, womit wir dem Protagonisten Mut machen können?

Zunächst mal: Es muss ja nicht schlecht laufen. Vielleicht hat er Glück und trifft innerhalb von den paar Tagen, die bis zur tödlichen Dehydration verbleiben, den korrekten Code, auch wenn die Wahrscheinlichkeit dafür verschwindend gering ist.

Außerdem: Vielleicht weicht sein Zeitempfinden in der Simulation stark von der draußen vergehenden Zeit ab. Selbst wenn es nur der Faktor 10 sein sollte: hundert Jahre oder tausend Jahre, das ist schon ein deutlicher Unterschied für die Wahrscheinlichkeit seines Überlebens.

Mehr fällt mir nicht ein, was die Hoffnung auf das Knacken des Codes erhöht. Allerdings kann man sich schlimmere Arten des Sterbens vorstellen, nicht wahr? Insbesondere, wenn man davon ausgeht, dass die Simulation den Sterbeprozess durch das Verdursten völlig ausblenden wird. Von einem philosophischen Standpunkt aus sollte man dem Protagonisten vielleicht raten: »Bleib entspannt. Lass dir Zeit. Genieße es. Zelebriere die Eingabe der Codes. Kerzen, Rosenblätter, sanfte Musik. Wenn dir was besonders gefällt, koste es aus. Dafür hast du dir diese virtuelle Realität schließlich eingerichtet. Deine Chancen stehen sowieso beschissen. Wenn du jetzt möglichst hektisch von einer Position zur nächsten wechselst, wird dadurch der Glückstreffer nicht so viel wahrscheinlicher, dass es sich wirklich lohnt, deshalb die vielleicht letzten Stunden deines Lebens als abgehetzte, unbefriedigende Akrobatik zu absolvieren.«

Oder doch?