Diodor's von Sicilien
Historische Bibliothek

übersetzt von Julius Friedrich Wurm (1828)

Buch II

1.
Das vorhergehende Buch, das erste des ganzen Werks, umfaßt die Geschichte von Aegypten. Namentlich sind darin die Fabeln von den Göttern der Aegypter, die Eigenthümlichkeit des Nils, und was man sonst an diesem Flusse Merkwürdiges findet, ferner die Lage von Aegypten und die Thaten der alten Könige, der Reihe nach, beschrieben; auch sind Nachrichten vom Bau der Pyramiden gegeben, die man zu den sieben Wunderwerken zählt; sodann haben wir von dem Ungewöhnlichen in der Gesetzgebung und Rechtspflege der Aegypter und von ihrem sonderbaren Thierdienste gesprochen; weiter von den Leichengebräuchen, und endlich von den Reisen berühmter gebildeter Griechen nach Aegypten, welche dort viele nützliche Kenntnisse gesammelt und nach Griechenland gebracht haben. In den gegenwärtigen Buche werden wir nun die Urgeschichte von Asien beschreiben, und zwar mit dem Assyrischen Reiche den Anfang machen. In der ältesten Zeit hatten die Asiatischen Völker einheimische Könige, von welchen man aber keine denkwürdige That, und noch nicht einmal den Namen weiß. Der erste, den die Geschichte nennt, als einen Mann, welcher große Thaten vollbracht, ist Ninus, König von Assyrien. Wir werden daher von ihm ausführlicher sprechen. Er hatte einen kriegerischen Geist, der nach Heldenruhm strebte. Die stärksten Jünglinge las er aus, und übte sie lange Zeit in den Waffen, bis sie an alle Beschwerden und Gefahren des Kriegs gewöhnt waren. Nachdem er so ein ansehnliches Heer zusammengebracht, so schloß er ein Bündniß mit Ariäus, dem König von Arabien, welches damals für ein Land voll streitbarer Männer galt. Die Araber sind überhaupt ein freiheitsliebendes Volk, das schlechterdings keinen ausländischen Fürsten duldet. Daher waren in der Folgezeit weder die Perserkönige, noch die Macedonier mit aller ihrer Uebermacht im Stande, dieses Volk zu bezwingen. Für ein feindliches Heer wird der Krieg in Arabien sehr beschwerlich, weil es zum Theil eine Wüste, zum Theil eine wasserlose Gegend ist, wo es nur hie und da verborgene, blos den Eingebornen bekannte, Zisternen gibt. In Verbindung mit dem Fürsten der Araber unternahm nun der Assyrische König Ninus mit einer großen Heeresmacht einen Feldzug gegen die Babylonier, seine Nachbarn. Zu jener Zeit war die jetzige Stadt Babylon noch nicht gebaut; es gab aber andere bedeutende Städte in Babylonien. Leicht überwand er das Volk, das mit den Kämpfen des Kriegs gar nicht bekannt war; er legte den Einwohnern Abgaben auf, welche sie jährlich zu entrichten hatten, und den König des eroberten Landes, den er mit seinen Kindern gefangen genommen hatte, ließ er tödten. Nachher fiel er mit einem zahlreichen Heer in Armenien ein, und verbreitete Schrecken unter den Einwohnern durch Verwüstung einiger Städte. Darum kam ihm der König Barzanes, da er sich dem Kampf nicht gewachsen fühlte, mit reichen Geschenken entgegen, und versprach, allen seinen Befehlen zu gehorchen. Ninus behandelte ihn großmüthig; er ließ ihn in Armenien fortregieren, und verlangte blos, daß er ihm auf seinen Feldzügen, als Bundesgenosse, Mannschaft und Kriegsbedürfnisse lieferte. Als seine Macht immer höher stieg, so bekriegte er Medien. Der König dieses Landes, Pharnus, stellte sich ihm entgegen mit beträchtlichen Streitkräften; allein er verlor die Schlacht und den größten Theil seiner Soldaten; er selbst gerieth mit sieben Kindern und seiner Gemahlin in Gefangenschaft, und wurde gekreuzigt.

2.
Als das Glück dem Ninus so günstig war, so regte sich in ihm ein mächtiger Trieb, alles Land Asiens zwischen dem Don und dem Nil zu erobern. Es ist ja die gewöhnliche Folge gelungener Unternehmungen, daß der Glückliche immer noch mehr zu haben wünscht. So ließ denn Ninus in Medien einen seiner Freunde als Statthalter zurück, und durchzog die Asiatischen Staaten: siebzehn Jahre brachte er mit der Eroberung derselben zu, und außer Indien und Baktrien machte er sich zum Herrn aller übrigen. Die Geschichte der einzelnen Kriege und die Zahl aller überwundenen Völker ist von keinem Schriftsteller aufgezeichnet; die bedeutendsten indessen unter diesen Völkerschaften wollen wir, nach der Angabe des Ktesias von Knidos, kurz durchgehen. Die am Meere gelegenen und die zunächst an diese gränzenden Länder, welche Ninus eroberte, waren Aegypten, Phönicien, Cölesyrien, Cilicien, Pamphylien, Lycien, ferner Karien, Phrygien, Mysien, Lydien. Weiter unterwarf er sich Troas, Phrygien am Hellespont, Propontis, Bithynien, Kappadocien, und die wilden Völkerschaften am Pontus [schwarzes Meer] bis zum Don. Er bezwang die Kadusier und Tapyren, die Hyrkanier und Dranggen, die Derbiker, Karmanier und Choromnäer, die Borkanier und Parther. Auch Persien und Susiana nahm er ein, und die Gegend, die man Kaspiana heißt, wohin sehr enge Pässe, die sogenannten Kaspischen Thore, führen. Außerdem brachte er noch viele kleinere Völkerschaften unter seine Gewalt, die wir nicht aufzählen, um nicht zu weitläufig zu werden. Baktrien fand er schwer zugänglich und an streitbaren Männern reich; nach vielen vergeblichen Anstrengungen entschloß er sich, den Krieg gegen die Baktrier auf eine andere Zeit zu verschieben, und seine Heere nach Assyrien abzuführen. Hier ersah er sich einen tauglichen Platz aus, wo er eine große Stadt gründen wollte.

3.
Nachdem er nämlich durch seine Thaten über alle seine Vorgänger sich erhoben hatte, so glaubte er nun auch eine Stadt von solchem Umfang bauen zu müssen, daß sie nicht nur größer würde als alle Städte der damaligen Welt, sondern auch in der Folgezeit nicht leicht Jemand, der etwas Aehnliches versuchte, im Stande wäre, ihn zu überbieten. Den König der Araber entließ er mit seinem Heere nach Hause, belohnt mit Ehrengeschenken und einem schönen Anteil an der Beute. Sodann ließ er überall her Arbeiter am Fluß Euphrat zusammenkommen und alles Nöthige herbeischaffen, und da erbaute er eine wohlummauerte Stadt, in der Gestalt eines länglichen Vierecks. Jede von den beiden längern Seiten maß 150, und von den kürzern je 90 Stadien; also betrug der ganze Umfang der Stadt 480 Stadien (Zwölf deutsche Meilen). Seine Hoffnung täuschte ihn nicht; denn nie ist nachher wieder eine Stadt von solcher Ausdehnung und mit einer so großartigen Ummaurung gebaut worden. Die Mauer war 100 Fuß hoch, und so breit, daß drei Wagen neben einander darauf fahren konnten. Die Thürme, zusammen 1500 an der Zahl, hatten eine Höhe von 200 Fuß. Ninus ließ sehr viele Assyrer, und zwar die Mächtigsten, in die neue Stadt ziehen; aber auch aus andern Völkern Jeden, der da wollte. Er nannte die Stadt nach seinem Namen Ninus [Ninive]. Den Bewohnern wies er ein großes Stück Landes in der Umgegend an.

4.
Da Ninus nach Erbauung dieser Stadt gegen Baktrien zu Felde zog, wo Semiramis seine Gemahlin wurde, so müssen wir zuvor erzählen, wie diese Ausgezeichnetste unter allen bekannten Frauen aus niedrigem Stande zu einer so hohen Würde emporgestiegen ist. In Syrien liegt eine Stadt Askalon, und nicht weit davon ein großer und tiefer, fischreicher See. Neben demselben hat eine hochverehrte Göttin, welche die Syrer Derketo nennen, einen Tempel. Sie hat das Gesicht von einem Weib, und den ganzen übrigen Körper von einem Fisch. Über die Ursache, warum sie so abgebildet wird, erzählen die Kundigsten unter den Eingebornen folgende Fabel. "Aphrodite zürnte über jene Göttin, und flößte ihr heftige Liebe gegen einen schönen Jüngling ein, der unter den Opfernden war. Derketo nahte sich dem Syrer und gebar eine Tochter. Aber beschämt über ihr Vergehen, brachte sie den Jüngling um, und setzte das Kind in einer öden, felsigten Gegend aus. Wunderbarer Weise wurde das Kind von Tauben, die in großer Zahl dort nisteten, ernährt und gerettet; die Mutter aber stürzte sich aus Beschämung und Kummer in den See, und wurde in eine Fischgestalt verwandelt. Daher kommt es, daß noch gegenwärtig die Syrer keine Fische essen, und diese Thiere göttlich verehren. Von den Tauben, die sich an dem Platze, wo das Kind ausgesetzt war, schaarenweise eingenistet hatten, wurde es durch eine wunderbare Fügung erhalten. Sie bedeckten es ringsum mit ihren Flügeln, um es am ganzen Leibe zu wärmen. Aus den benachbarten Höfen holten sie ihm seine Nahrung, wenn sie bemerkten, daß die Hirten der Rinder und der anderen Heerden nicht zu Hause waren; sie brachten dem Kinde Milch in ihren Schnäbeln, und ließen sie ihm zwischen den Lippen hineinträufeln. Da es ein Jahr alt war, und stärkere Speise nöthig hatte, pickten die Tauben etwas von den Käsen ab, so viel, als das Kind bedurfte. Wenn nun die Hirten nach Hause kamen, und den Käse angebissen fanden, so konnten sie nicht begreifen, wie das zuging. Als sie aber Acht gaben, so entdeckten sie die Ursache, und fanden das wunderschöne Kind. Sie nahmen es sogleich in ihre Wohnung mit, und schenkten es dem Aufseher der königlichen Heerden, Namens Simmas. Dieser, ein kinderloser Mann, erzog es mit aller Sorgfalt, wie eine eigene Tochter. Der Name Semiramis, den er dem Kinde gab, kommt von dem Wort her, welches in der Syrischen Sprache eine Taube bezeichnet. Seit dieser Zeit haben alle Bewohner von Syrien den Tauben immer göttliche Ehre erwiesen."