Diodor’s von Sicilien
Historische Bibliothek

übersetzt von Julius Friedrich Wurm (1828)

Buch II

5.
So lautet die Fabel von der Geburt der Semiramis. Als sie in die Jahre der Mannbarkeit kam, zeichnete sie sich durch ihre Schönheit unter allen Jungfrauen aus. Um diese Zeit wurde vom König ein Beamter, mit Namen Onnes, geschickt, um den Stand der königlichen Heerden zu untersuchen. Er war der erste von den Räthen des Königs, und zum Statthalter von ganz Syrien ernannt. Im Hause des Simmas, wo seine Herberge war, sah er die Semiramis, und wurde von ihrer Schönheit eingenommen. Er bat den Simmas, sie ihm zur rechtmäßigen Gattin zu geben, und führte sie nach Ninus heim. Dort zeugte er aus dieser Ehe zwei Söhne, Hyapates und Hydaspes. Da Semiramis außer der schönen Gestalt noch andere dieser entsprechende Vorzüge besaß, so hatte sie den Mann völlig in ihrer Gewalt, und es gelang ihm Alles wohl, weil er Nichts ohne ihre Einwilligung that. Damals nun rüstete sich der König zum Krieg gegen die Baktrier, nachdem der Bau der Stadt, die seinen Namen trug, vollendet war. Er wußte wohl, wie zahlreich und wie tapfer die Feinde waren, und wie viel es in dem Lande ganz unzugängliche feste Plätze gab. Daher wählte er aus allen ihm unterworfenen Völkern eine große Zahl von Soldaten aus. Weil nämlich der erste Feldzug mißlungen war, so glaubte er nun Baktrien mit einer um so stärkeren Kriegsmacht angreifen zu müssen. Nachdem das Heer aus allen Gegenden zusammengebracht war, zählte man, wie Ktesias in seiner Geschichte berichtet, 1.700.000 Mann Fußvolk und 210.000 Reiter, und nicht viel weniger als 10.600 Sichelwagen. Eine solche Heeresmacht ist freilich etwas Unglaubliches, wenn man blos die Zahlen hört; aber doch wird man sie nicht unmöglich finden, wenn man an die Größe von Asien denkt, und an die Menge der Völker, die es bewohnen. Man darf sich nur (um von dem Zuge des Darius gegen die Scythen mit 800.000 Mann, und des Xerxes mit seinen unzählbaren Schaaren gegen Griechenland Nichts zu sagen) an die Unternehmungen erinnern, die vor nicht so langer Zeit in Europa ausgeführt worden sind; so wird jene Angabe glaublicher erscheinen. In Sicilien führte Dionysius aus der Stadt Syrakus allein 120.000 Mann zu Fuß und 12.000 Reiter gegen den Feind, und aus Einem Hafen 400 große Schiffe, darunter einige drei- und fünfrudrige. Die Römer ließen, kurz vor Hannibals Einfall, weil sie einen schweren Kampf voraussahen, die waffenfähige Mannschaft in Italien, unter Bürgern und Bundesgenossen, aufschreiben, und die ganze Zahl machte beinahe eine Million aus. Und doch ist in Hinsicht der Bevölkerung ganz Italien nicht Einem der Asiatischen Länder gleich zu rechnen. So viel gegen Diejenigen, welche die Volksmenge der alten Welt nach der geringen Einwohnerzahl der jetzigen Staaten schätzen wollen.

6.
Ninus konnte das ungeheure Kriegsheer, mit dem er gegen Baktrien zog, nur theilweise anrücken lassen, weil die Zugänge zu unwegsam und zu eng waren. Es gab in Baktrien viele große Städte: eine darunter aber zeichnete sich aus, die Residenzstadt Baktra; sie war viel größer und hatte eine weit festere Burg als alle übrigen. Der König, Oxyates, hob Alle, die das Alter zum Kriegsdienst hatten, aus, und so brachte er 400.000 Mann zusammen. Nun brach er mit seinen Truppen auf, und ging dem Feind bis an die Gränzpässe entgegen. Hier ließ er einen Theil vom Heer des Ninus ruhig einrücken; nachdem aber eine ziemliche Zahl von Feinden in die Ebene vorgedrungen war, stellte er seine Soldaten in Schlachtordnung. Es entstand ein hartnäckiger Kampf; die Baktrier brachten die Assyrer zum Weichen, und verfolgten sie bis in die gegenüberliegenden Gebirge; der Feind verlor gegen 100.000 Mann. Zuletzt aber, als das ganze Heer eingedrungen war, zerstreuten sich die Baktrier, von der Überzahl besiegt, in die Städte; denn es wollte Jeder seiner Heimath zu Hülfe eilen. Leicht bezwang Ninus die anderen Städte alle außer Baktra, wo die trefflichen Festungswerke und Vertheidigungsanstalten die Erstürmung unmöglich machten. Während der lange dauernden Belagerung fühlte der Gemahl der Semiramis, der auch mit dem König in's Feld gezogen war, ein so sehnliches Verlangen nach seiner Gattin, daß er sie holen ließ. Da hatte sie nun Gelegenheit, ihre Einsicht und Entschlossenheit und ihre übrigen glänzenden Eigenschaften zu zeigen, und durch persönliche Tapferkeit sich hervorzuthun. Für's erste verfertigte sie sich auf die Wanderung von vielen Tagereisen ein Kleid, das so beschaffen war, daß man nicht erkennen konnte, ob die Person, die darein gehüllt war, ein Mann war oder ein Weib. Es gewährte den Vortheil, daß bei'm Reisen in der Sonnenhitze doch die Hautfarbe erhalten wurde, und daß man es zu allen möglichen Geschäften anziehen konnte, weil man sich darin, wie in den Kleidern der Jünglinge, mit Leichtigkeit bewegte. Ueberhaupt hatte es ein so gefälliges Aussehen, daß nachher auch die Meder, als sie die Beherrscher von Asien wurden, die Tracht der Semiramis annahmen, und später eben so die Perser. Sobald sie in Baktrien angekommen war, beobachtete Semiramis das Verfahren der Belagerer. Sie bemerkte, daß der Angriff immer nur auf die untere Stadt und auf die schwächeren Seiten gerichtet war, die Burg aber, die man für zu fest hielt, Niemand berennen wollte, und auch die dort befindlichen Truppen ihre Wachposten verlassen hatten, um die bedrohten Stellen der unteren Mauern vertheidigen zu helfen. Nun wählte sie aus den Soldaten Diejenigen aus, die an's Felsenklettern gewöhnt waren, und mit Diesen stieg sie durch eine steile Schlucht hinauf, und nahm einen Theil der Burg ein: dann gab sie den Uebrigen, welche die untere Mauer angreifen mußten, ein Zeichen. Im Schrecken über die Einnahme der Burg gaben die Belagerten die Vertheidigung der Mauer auf, und verzweifelten an ihrer Rettung. Auf diese Art wurde die Stadt erobert. Der König bewunderte die Tapferkeit des Weibes; zuerst belohnte er sie durch reiche Geschenke; dann aber verliebte er sich in die schöne Frau, und suchte den Mann zu bereden, daß er sie ihm freiwillig abträte; zum Dank versprach er ihm dagegen seine eigene Tochter Sosane zur Ehe zu geben. Als aber Dieser den Vorschlag mit Unwillen aufnahm, so drohte Ninus, ihm die Augen auszustechen, wenn er nicht unbedingt seinen Befehlen gehorchte. Von der Furcht vor den Drohungen des Königs und von der Liebe zugleich gequält, gerieth Onnes in Raserei, und erhenkte sich an einem Stricke. Dieß war der Weg, auf welchem Semiramis zur königlichen Würde gelangte.